80 Nibelungenlied
5. Aventiure
Wie Sîfrit Kriemhilde aller erste ersach
279 Uoten die vil rîchen die sach man mit
ir komen. 279
diu hete schœne frouwen geselleclîch genomen wol hundert oder mêre: die truogen rîchiu kleit. ouch gie dâ nâch ir tohter vil manec wætlîchiu meit. 280 Von einer kemenâten sach man si alle gân.
280
281 Nu gie diu minneclîche alsô der morgenrôt
281
282 Jâ lûhte ir von ir wæte vil
manec edel stein. 282
283 Sam der liehte mâne vor den sternen stât,
283
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Nibelungenlied 81
5. Aventiure
Wie Siegried Kriemhild zum ersten Mal erblickteSiegfried is known to be ‘in love’ with Kriemhilde, Gunther's sister, even though he has yet to see her. Finally they meet, but not until a feast is arranged at the court at Pentecost. But even after the meeting he progresses so slowly in his quest for Kriemhilde that he is on the verge of returning home. Giselher, Kriemhilde’s younger brother, persuades him to stay.
(279) Zusammen mit Kriemhild sah man auch die vornehme Ute kommen, die sich wohl hundert oder mehr schöne Damen zu ihrer Begleitung ausgesucht hatte, alle in erlesenen Kleidern. Aber auch ihrer Tochter folgten viele schöne Jungfrauen.
(280) Von den Kemenaten10 her sah man den Zug herannahen. Da drängten die Helden sogleich heftig nach vorn; denn sie hofften, wenn irgend möglich, sich am Anblick der edlen Jungfrau zu erfreuen.(281) Wie das Morgenrot aus den trüben Wolken hervortritt, so schritt das liebliche Mädchen nun einher, und alsbald lösten sich in Siegfried, der ihr Bild heimlich im Herzen trug und nun schon lange getragen hatte, alle Liebesqualen. In allem Glanz sah er das liebliche Mädchen vor sich stehen.
(282) An ihrem Kleid erstrahlten viele Edelsteine, die rosige Farbe ihrer Haut schimmerte lieblich. Selbst ein Mann, der sich irgend etwas hätte wünschen dürfen, hätte nicht sagen können, daß er auf dieser Welt irgend etwas Schöneres erblickt hätte.
(283) So wie der helle Mond, der so rein aus den Wolken herausleuchtet, die Sterne überstrahlt, so stand sie nun vor den vielen anderen trefflichen Frauen. Den stattlichen Helden schlug bei ihrem Anblick das Herz höher.
82 Nibelungenlied
284 Die rîchen kamerære sach man vor
ir gân. 284
die hôchgemuoten degene diene wolden des niht lân, sine drúngen dâ si sâhen die minneclîchen meit. Sîvríde dem hérren wart beide liep unde leit. 285 Er dâhte in sînem muote: "wie kunde
daz ergân 285
286 Dô stuont sô minneclîche daz
Sigmundes kint, 286
287 Die mit den frouwen giengen, die hiezen von den
wegen 287
288 Dô sprach von Burgonden der herre Gêrnôt:
288
289 Ir heizet Sîvrîden zuo mîner
swester kumen, 289
290 Dô giengen des wirtes mâge dâ
man den helt vant. 290
291 Der herre in sînem muote was des vil gemeit.
291
292 Dô si den hôchgemuoten vor ir stênde
sach, 292
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Nibelungenlied 83
(284) Prächtige Kämmerer11 schritten ihr voran, doch die freudig erregten Helden ließen nicht davon ab, dorthin zu drängen, wo sie die liebliche Jungfrau erblickten. Dem Herrn Siegfried wurde abwechselnd warm und kalt ums Herz.(285) Er dachte bei sich: "Wie könnte ich nur Deine Liebe gewinnen? Ich glaube, das ist eine törichte Erwartung! Wenn ich Dich jedoch meiden sollte, dann wäre es besser, ich wäre tot!" Bei diesen Überlegungen wechselte immer wieder seine Gesichtsfarbe.
(286) Da stand Siegmunds Sohn so lieblich da, als wenn ein kunstreicher Meister ihn auf Pergament gemalt hätte, wie man denn auch allenthalben sagte, daß man nie zuvor einen schöneren Helden gesehen habe.
(287) Die Männer, die den Damen das Geleit gaben, hießen die Leute überall an den Wegen zurücktreten, und viele Helden kamen der Aufforderung nach; denn die vielen hochherzigen Frauen waren für sie eine Augenweide. Man sah viele strahlende Frauen in edlem Anstand einherschreiten.
(288) Da sagte der Herr Gernot von Burgund: "Gunther, lieber Bruder, dem Mann, der sich so bereitwillig für Euch eingesetzt hat, dem solltet Ihr Euch in Gegenwart aller hier versammelten Männer für seine Dienste erkenntlich erweisen. Ich glaube, ich brauche mich niemals zu schämen, einen solchen Vorschlag gemacht zu haben.
(289) Laßt Siegfried vor meine Schwester treten, damit die Jungfrau ihn begrüßen kann. Für immer werden wir davon den Nutzen haben. Sie hat bisher noch niemals einen Recken angesprochen, aber jetzt soll sie es tun. Durch eine solche Geste werden wir den schönen Helden an uns binden."
(290) Da gingen die Verwandten des Landesherrn hinüber zu Siegfried. Sie sagten zu dem Recken aus Niederland: "Der König hat es Euch gestattet, Ihr dürft vor ihm und den Damen des Hofes erscheinen, seine Schwester soll Euch ihren Gruß entbieten und Euch damit eine Ehre erweisen."
(291) Darüber war Herr Siegfried sehr froh, und es lachte ihm das Herz in ungetrübter Freude bei dem Gedanken, daß er die schöne Tochter Utes sehn dürfe. Bald darauf grüßte sie ihn mit gewinnender Freundlichkeit.
(292) Als sie den hochherzigen Mann vor sich stehen sah, da übergoß blühende Röte sein Antlitz. Die schöne Jungfrau sagte: "Seid willkommen, Herr Siegfried, edler, trefflicher Ritter!"
84 Nibelungenlied
dô wart im von dem gruoze vil wol gehœhét
der muot.
293 Er neic ir flîzeclîche; bi der hénde si in vie. 293 wie rehte minneclîche er bî der frouwen gie! mit lieben ougen blicken ein ander sâhen an der herre und ouch diu frouwe: daz wart vil tougenlîch getân. [...] 298 Der künec von Tenemarke der sprach sâ
zestunt: 298
299 Man hiez dô allenthalben wîchen von
den wegen 299
300 Dô gie si zuo dem münster, ir volgete
manec wîp. 300
301 Vil kûme erbeite Sîvrit daz man dâ
gesanc. 301
302 Dô si kom ûz dem münster sam
er het é getân, 302
303 "Nu lône iu got, her Sîvrit", sprach
daz vil schœne kint, 303
304 "Ich sul in immer dienen", alsô sprach
der degen, 304
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Nibelungenlied 85
Da ließ der Gruß sein Herz noch höher schlagen.
(293) Mit Hingabe verneigte er sich vor ihr, sie aber ergriff seine Hand und, ach, wie lieblich er doch an der Seite Kriemhilds einherging! Mit freundlichen Blicken sahen der Ritter und die Dame einander an, doch immer nur heimlich und verstohlen[...]
(298) Der König von Dänemark sagte daraufhin: "Um dieser hohen Auszeichnung willen mußten viele Helden von Siegfrieds Hand sterben, und auch ich habe das zu spüren bekommen. Gott möge verhüten, daß er jemals wieder in mein Königreich kommt."
(299) Man gab Befehl, daß man überall auf den Wegen der schönen Kriemhild Platz machen sollte, und dann sah man, daß viele tapfere Helden sie ehrerbietig zur Kirche geleiteten. Dort mußte sich der schöne Mann allerdings von ihr trennen.
(300) Als sie nun zum Münster12 schritt, folgten ihr viele Frauen. Die Königin bot einen so schönen Anblick, daß sie manchen hochfliegenden, aber unerfüllbaren Wunsch erregte. Viele Recken erfreuten sich an ihrem Anblick.(301) Kaum konnte Siegfried erwarten, daß man den Meßgesang beendete. Seinem günstigen Geschick war er auf immer dankbar, daß ihm die Jungfrau, deren Bild er in seinem Herzen trug, so gewogen war. Aber auch er hatte allen Grund, der schönen Kriemhild seine Zuneigung zu schenken.
(302) Als sie nun aus dem Münster heraustrat, wie Siegfried schon vor ihr getan hatte, da forderte man den tapferen Helden auf, wieder an ihre Seite zu treten, und erst jetzt kam die liebliche Jungfrau dazu, ihm auch in Worten dafür zu danken, daß er an der Spitze ihrer Verwandten so glänzend gekämpft habe.
(303) "Herr Siegfried", sagte das schöne Mädchen, "möge Gott Euch dafür belohnen, daß Ihr Euch durch Eure großen Verdienste unseren Recken so geneigt gemacht und so verbunden habt, wie ich es von ihnen höre." Da blickte er die schöne Kriemhild liebevoll an.
(304) "Immer werde ich zu ihren Diensten stehen", so sagte der Held, "und will mich, solange ich lebe, niemals zur Ruhe legen, bevor ich nicht alle ihre Wünsche erfüllt habe; doch dies alles, Frau Kriemhild, tue ich nur, um Eure Huld zu erlangen."
86 Nibelungenlied
6. Aventiure
Wie Gunther gên Islande nâch Prünhilde fuor
326 Ez was ein küneginne gesezzen über
sê, 326
ir gelîche enheine man wesse ninder mê. diu was unmâzen schœne, vil michel was ir kraft. si schôz mit snellen degenen umbe minné den schaft. 327 Den stein warf si verre, dar nâch si wîten
spranc. 327
[...] 329 Dô sprach der vogt von Rîne: "ich
wil níder an den sê 329
330 "Daz wil ich widerrâten", sprach dô
Sîvrit. 330
331 "So wil ich iu daz râten", sprach dô
Hagene, 331
332 Er sprach: "wil du mir helfen, edel Sîvrit,
332
333 Des antwurte Sîvrit, Sigmundes sun: 333
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Nibelungenlied 87
6. Aventiure
Wie Gunther nach Island fuhr und um Brünhild warb
Gunther hears of the beauty of a ‘queen across the sea.’ He reveals a romantic interest in her, but Siegfried tells him that she treats her suitors cruelly and advises him not to go there. Hagen suggests that Siegfried help Gunther win the queen, since he already knows so much about her.
(326) Jenseits des Meeres hatte eine Königin ihre Burg, der—jedenfalls soweit man wußte—überhaupt keine andere gleichkam: sie war unermeßlich schön, aber außerdem besaß sie noch ungeheure Stärke. Wenn ein tapferer Held ihre Liebe gewinnen wollte, dann maß sie sich mit ihm im Speerwurf.
(327) Sie konnte den Stein weit schleudern und sprang ihm dann in ungeheurem Sprunge nach. Wer immer um ihre Liebe warb, der mußte in drei Wettkämpfen über die edle Frau siegen. Versagte er auch nur in einem , dann hatte er sein Leben verwirkt
[...]
(329) Da sagte der König vom Rhein: "Was auch immer mir geschehen mag, ich will den Fluß hinab bis ans Meer zu Brünhild segeln und aus Liebe zu ihr mein Leben aufs Spiel setzen. Wenn sie nicht meine Frau wird, will ich es verlieren."
(330) "Davon möchte ich abraten", sagte Siegfried. "Die Königin stellt so schreckliche Bedingungen, daß es den, der um ihre Liebe wirbt, teuer zu stehen kommt. Deshalb solltet Ihr Euch die Reise ein für alle mal aus dem Kopf schlagen."13(331) "In diesem Falle", sagte Hagen, "rate ich Euch, Siegfried zu bitten, mit Euch zusammen die beschwerlichen Gefahren zu bestehen. Ja, das rate ich Euch in allem Ernst, da er so genau über Brünhild Bescheid weiß."
(332) Gunther sagte: "Willst Du mir helfen, edler Siegfried, die liebliche Jungfrau zu gewinnen? Wenn Du meine Bitte erfüllst und die liebliche Frau meine Liebste wird, dann werde ich auch für Dich Ansehen und Leben einsetzen, wenn Du es verlangst."
(333) Da antwortete Siegfried, der Sohn Siegmunds: "Gibst Du mir Deine Schwester, die schöne Kriemhild, die edle Königin, zur Frau, dann willige ich ein und will außerdem keinen Lohn für meine schwierige Aufgabe."
88 Nibelungenlied
334 "Daz lobe ich", sprach Gunther, "Sîvrit,
an dîne hant: 334
und kumt diu schœne Prünhilt her in ditze lant, sô wil ich dir ze wîbe mîne swester geben; sô mahtu mit der schœnen immer vrœlîche leben. 335 Des swuoren si dô eide, die réckén
vil hêr. 335
336 Sîvrit der muose füeren die kappen
mit im dan, 336
337 Alsô der starke Sîvrit die tarnkappen
truoc, 337
338 Ouch was diu selbe tarnhût álsô
getân 338
[...] |
7. Aventiure
Wie Gunther Prünhilde gewan
410 "Ir sult mich lâzen hœren", sprach diu
künegîn, 410
"wer die unkunden recken mugen sîn, die in mîner bürge sô hêrlîche stân, únt durch wés líebe die helde her gevárn hân." 411 Dô sprach ein ir gesinde: "frouwe, ich
mac wol jehen 411
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Nibelungenlied 89
(334) "Siegfried", sagte Gunther, "das verspreche ich Dir in Deine Hand: wenn die schöne Brünhild hierher in dieses Land kommt, so werde ich Dir meine Schwester zur Frau geben. Dann kannst Du mit der Schönen für alle Zeit in großer Freude leben."
(335) Die edlen Recken beschworen das durch Eide; doch schon in der Zeit, bevor sie Brünhild an den Rhein bringen konnten, wurden ihre Schwierigkeiten dadurch nur größer. Später sahen sich die Tapferen sogar den allergrößten Fährnissen ausgesetzt.
(336) Siegfried mußte den Tarnmantel mitnehmen, den der tapfere Held unter großen Gefahren einem Zwerg mit Namen Alberich abgenommen hatte. Die tapferen, mächtigen Recken bereiteten sich auf die Reise vor.
(337) Sobald der starke Siegfried den Tarnmantel anzog, besaß er gewaltige Kraft: die Stärke von zwölf Männern kam zu seiner eigenen noch hinzu. Durch zauberische List wußte er später die schöne Frau zu erlangen.
(338) Der Tarnmantel war überdies so beschaffen, daß jeder in ihm ausführen konnte, was er wollte, ohne gesehen zu werden. Auf diese Weise gewann er Brünhild, aber es sollte ihm teuer zu stehen kommen.
[...]
7. Aventiure
Wie Gunther Brünhild zur Gemahlin gewann
Elaborate preparations are made for the journey, especially in the provision of rich clothing,14 and the heroes enjoy a fabulous sea voyage. The geographical information about this voyage to "Islant" and castle Isenstein—neither of which ought to be mistaken for modern-day Iceland—is very vague, in marked contrast to the later precise description of the journey to Etzel’s court. Their arrival is duly noted by the ladies, who greet them in proper form. Brünhild is told that one of the newcomers looks like Siegfried, and that another is obviously a great king.(410) "Erzählt mir doch", so sagte die Königin, "wer wohl die fremden Recken sein könnten, die jetzt so stattlich im Burghof stehen, und erzählt mir weiter, wem zuliebe sie hergekommen sind."
(411) Da sagte einer aus ihrem Gefolge: "Herrin, ich muß allerdings vorausschicken, daß ich keinen von ihnen bisher gesehen habe; aber einer ist darunter, der sieht so aus wie Siegfried. Als Euer treuer Gefolgsmann rate ich Euch, ihn ehrenvoll zu empfangen.
90 Nibelungenlied
412 Der ander der gesellen der ist sô lobelîch.
412
ob er gewalt des hête, wol wære er künec rîch ob wîten fürsten landen, und mohte er diu gehân. man siht in bî den andern sô rehte hêrlîche stân. 413 Der dritte der gesellen der ist sô gremelîch,
413
414 Der jungeste darunder der ist sô lobelîch.
414
415 Swie blîde er pflege der zühte, und
swie schœne sî sîn lîp, 415
416 Dô sprach diu küneginne: "nu brinc
mir mîn gewant! 416
417 Prünhilt diu schœne wart schiere wol gekleit.
417
418 Dâ mit giengen degene dâ ûz
Islant, 418
419 Dô diu küneginne Sîfriden sach,
419
420 "Vil michel iuwer genâde, mîn frou
Prünhilt, 420
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Nibelungenlied 91(412) Der zweite der Gefährten ist auch rühmlich und dürfte, wenn er die Herrschaft über weite fürstliche Länder besäße, ein mächtiger Herrscher sein. So hoheitsvoll sieht man ihn unter den anderen stehen.
(413) Der dritte der Gefährten, mächtige Königin, ist zwar gleichfalls ein schöner Mann, doch die grimmigen Blicke, die er überall umherwirft, jagen einem Schrecken ein. Ich glaube, er ist von finsterer Gemütsart.
(414) Der jüngste von ihnen, der ist auch zu rühmen: jugendfrisch sehe ich den kräftigen Helden dort stehen, wohlerzogen und von liebenswürdiger Haltung. Wenn ihn jedoch irgend jemand von uns herausfordern würde, dann hätten wir allen Grund, uns zu fürchten.
(415) Wie sanftmütig er auch im Umgang und wie schön er auch von Gestalt sein mag, wenn er zu zürnen anfinge, dann könnte er schöne Frauen wohl zum Weinen bringen. Seiner ganzen Erscheinung nach ist er ein mutiger, tapferer Held und in allen ritterlichen Tugenden bewährt."
(416) Da sagte die Königin: "Nun bringt mir mein Gewand herbei! Wenn der starke Siegfried in mein Land gekommen ist und um meine Liebe wirbt, dann geht es ihm schlecht. Denn ich fürchte ihn nicht so sehr, als daß ich ohne weiteres seine Frau würde."15(417) Man hüllte die schöne Brünhild sogleich in prachtvolle Kleider. Dann schritten viele schöne Mädchen, wohl hundert oder mehr, alle auf das prächtigste geschmückt, mit ihr von dannen. Die edlen Frauen waren begierig, die Fremden zu sehen.
(418) Fünfhundert oder mehr Recken Brünhilds, Helden aus Island, begleiteten den Zug. Sie trugen ihre Schwerter in den Händen. Das war für die Gäste eine offene Kränkung. Da erhoben sich die tapferen, stolzen Helden von ihren Sitzen.
(419) Nun hört, was die Königin sagte, als sie Siegfried erblickte: "Herr Siegfried, seid mir hier in meinem Land willkommen! Es wäre mir lieb zu wissen, was Ihr mit dieser Reise vorhabt!"
(420) "Frau Brünhild, edle Fürstentochter, Ihr seid viel zu gütig, mich vor diesem edlen Recken, der hier vor mir steht, zu begrüßen.
92 Nibelungenlied
wande er ist mîn herre: der êren het
ich gerne rât.
421 Er ist geborn von Rîne, waz sól ich dir ságen mêr? 421 durch die dîne liebe sîn wir gevarn her. der wil dich gerne minnen, swaz im dâ von geschiht. nu bedénke dichs bezîte: mîn herre erlâzet dichs niht. 422 Er ist geheizen Gunther unt ist ein künec
hêr. 422
423 Si sprach: "ist er dîn herre unt bistú
sîn man, 423
424 Dô sprach von Tronege Hagene: "frouwe,
lât uns sehen 424
425 "Den stein sol er werfen unt spríngén
dar nâch, 425
[...] 453 "Waz hât mich gerüeret?" dâhte
der küene man. 453
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Nibelungenlied 93
Denn er ist mein Herr, und daher ist es mein Wunsch, nicht auf diese Weise geehrt zu werden.
(421) Was soll ich Dir viel sagen? Er stammt aus einem rheinischen Königsgeschlecht, und wir sind hierhergekommen, Deine Hand zu erringen. Denn er verlangt Dich zur Frau, welche Folgen dieser Wunsch auch immer für ihn haben mag. Nun überlege es Dir, solange noch Zeit ist; denn mein Herr läßt nicht davon ab.
(422) Sein Name ist Gunther, und er ist ein edler König. Wenn er Dich zur Frau gewönne, dann wären alle seine Wünsche erfüllt. Mir hat der edle Recke den Befehl erteilt, hierherzufahren. Wenn es in meiner Macht gestanden hätte, dann wäre ich mit Vergnügen von diesem Auftrag zurückgetreten.
(423) Brünhild sagte: "Wenn er Dein Lehnsherr ist und Du nur sein Lehnsmann, dann werde ich, falls er die vorgeschriebenen Kampfspiele zu bestehen wagt und darin Sieger bleibt, seine Frau.16 Wenn aber ich gewinne, dann geht es Euch allen an das Leben."(424) Da sagte Hagen von Tronje: "Herrin, laßt uns doch die Bedingungen für Eure heiklen Kampfspiele kennenlernen. Bevor Gunther, mein Herr, jemandem anderen den Sieg zu-erkennt, müßte es schlimm zugehen. Er traut es sich schon zu, eine so schöne Jungfrau für sich zu gewinnen."
(425) Da sagte die liebliche Frau: "Er muß den Stein werfen, ihn dann im Sprung erreichen und außerdem den Speer mit mir um die Wette werfen. Übereilt Euch also nicht; denn Ihr könntet hier Euer ganzes Ansehen und Euer Leben verlieren. Bedenkt es daher sehr gründlich!"
Gunther explains the reason for his coming, and Brünhild is eager to begin the contest. She arms herself, and so do her attendants. Gunther's followers, who have had to relinguish their weapons upon entering the queen’s territory, are fearful of the outcome; Gunther is even more afraid. Siegfried fetches his cloak of invisibility and stands beside Gunther to help him win.
(453) "Was hat mich berührt?" so fragte sich der tapfere Held und sah sich nach allen Seiten um, ohne jemanden zu erblicken. Doch Siegfried sagte: "Ich bin es, Siegfried, Dein lieber Freund. Du brauchst vor der Königin keine Angst zu haben.
94 Nibelungenlied
454 Den schilt gip mir von hende unt lâ mich
den tragen, 454
unde merke rehte waz du mich hœrest sagen! nu hab du die gebære, diu werc wil ich begân." do er in rehte erkande, ez was im líebé getân. 455 "Nu hil du mîne liste, dine sóltu
niemen sagen, 455
456 Dô schôz vil krefteclîche diu
hêrliche meit 456
457 Des starken gêre snîde al durch den
schilt brach, 457
458 Sîfrîde dem vil küenen von munde
brast daz bluot. 458
459 Er dâhte: "ich wil niht schiezen daz schœne
magedîn." 459
460 Daz fiuwer stoup ûz ringen alsam ez tribe
der wint. 460
461 Prünhilt diu schœne wie balde si ûf
spránc! 461
462 Dô gie si hin vil balde; zornec was ir
muot. 462
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Nibelungenlied 95
(454) Gib den Schild aus Deinen Händen und laß mich ihn tragen. Und achte genau auf das, was ich Dir jetzt sage: Mach Du die Bewegungen, ich werde die Taten verrichten." Als Gunther Siegfried an der Stimme erkannte, da freute er sich sehr.
(455) "Nun halte meine Zauberkünste geheim, niemandem darfst Du davon erzählen. Dann kann die Königin nicht den Ruhm erlangen, den sie sich von einem Sieg über Dich erhofft. Sieh nur, wie sie ohne jede Angst vor Dir steht!"
(456) Da schleuderte die schöne Jungfrau ihren Speer mit aller Kraft gegen den neuen, großen und breiten Schild, den der Sohn Sieglindes in seinen Händen trug. Funken sprühte der Stahl, als ob der Wind sie emporwirbelte.
(457) Die Schneide des mächtigen Speeres drang durch den Schild hindurch, so daß selbst aus den Panzerringen noch das Feuer loderte. Beide Kämpfer, so kraftvoll sie auch waren, strauchelten von der Wucht des Schusses. Ja, wäre nicht der Tarnmantel gewesen, dann hätten sie da ihr Leben lassen müssen.
(458) Dem tapferen Siegfried schoß das Blut aus dem Mund. Doch sogleich sprang der kraftvolle Mann vor, nahm den Speer, den sie durch seinen Schild hindurch geschossen hatte. Der starke Siegfried warf ihn auf sie zurück.
(459) Er dachte: "Ich will die schöne Jungfrau durch den Schuß nicht verletzen." So drehte er den Speer mit seiner Schneide nach hinten17 und traf mit dem Schaft so heftig auf ihre Rüstung, daß sie von dem Schuß, den er mit mächtiger Hand abgegeben hatte, laut erdröhnte.(460) Funken sprühten aus den Panzerringen, als ob der Wind sie emporwirbelte; der Sohn Siegmunds warf den Speer mit solcher Macht, daß Brünhild trotz all ihrer Kraft der Wucht des Anpralls nicht standhalten konnte. In der Tat, der König Gunther hätte einen solchen Wurf niemals vollführen können.
(461) Die schöne Brünhild sprang schnell wieder auf: "Gunther, edler Ritter, für diesen Schuß danke ich dir!"18 Sie glaubte nämlich, er selbst hätte so kraftvoll geworfen; doch es war ein weit kräftigerer Held, der sie heimlich zu Fall gebracht hatte.(462) Zornentbrannt eilte die edle, mutige Jungfrau zum Stein, hob ihn empor, schleuderte ihn mit kraftvoller Hand weithin über das Feld
96 Nibelungenlied
dô spranc si nâch dem wurfe; ja erklanc
ir allez ir gewant.
463 Der stein der was gevallen wol zwelf klâfter dan. 463 den wurf brach mit sprunge diu maget wol getân. dar gie der herre Sîfrit dâ der stein gelac; Gunther in dô wegete, der helt in wérfénne pflac. 464 Sîfrit was küene, vil kreftec unde
lanc. 464
465 Der sprunc der was ergangen, der stein der was
gelegen. 465
466 Zuo zir ingesinde ein teil si lûte sprach,
466
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Nibelungenlied 97
und sprang dann noch hinter dem Wurf her, so daß ihre Rüstung laut erklirrte.
(463) Der Stein war zwölf Klafter weit entfernt zur Erde gefallen, doch die schöne Jungfrau überholte den Wurf noch mit ihrem Sprung. Nun ging Siegfried an die Stelle, an der der Stein lag, Gunther bewegte den Stein, aber es war Siegfried, der Held, der ihn warf.
(464) Siegfried war tapfer, kräftig gebaut und hochgewachsen. Er warf den Stein nicht nur weiter, er übertraf auch noch Brünhilds Sprung. Infolge seiner magischen Künste hatte er überdies noch Kraft, im Sprung den König Gunther mit sich zu tragen.19(465) Der Sprung war vollführt, der Stein lag nun am Boden. Da sah man niemand anders als Gunther, den Helden. Die schöne Brünhild wurde rot vor Zorn. Siegfried hatte den König Gunther vor dem sicheren Tod bewahrt.
(466) Als sie sah, daß der Held unversehrt am Ende des Ringes stand, da rief sie mit lauter Stimme ihrem Hofgesinde zu: "Ihr Verwandten und Gefolgsleute, kommt sogleich herbei! Ihr sollt jetzt alle König Gunther untertan sein."
Siegfried goes to the land where his treasure is stored and after a struggle with the dwarfs who guard it—a struggle he could have avoided had he disclosed his identity—he returns with a large entourage to accompany Brünhild to the land of the Burgundians. He rides on ahead to announce the arrival of Gunther and Brünhild and is well received by Kriemhild.
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