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96 Nibelungenlied
 

10. Aventiure
       Wie Prünhilt ze Wormez empfangen wart

 
618 Der künec was gesezzen unt Prünhilt diu meit. 618 
dô sach si Kriemhilde (dô wart ir nie sô leit) 
bî Sîfride sitzen: weinen si began. 
ir vielen heize trähene über liehtiu wange dan. 

619 Dô sprach der wirt des landes: "waz ist iu, frouwe mîn, 619 
daz ir sô lâzet truoben liehter ougen schîn? 
ir muget iuch freun balde: iu ist undertân 
mîn lant unt mîne bürge unt manec wætlîcher man." 

620 "Ich mac wol balde weinen", sprach diu schœne meit. 620 
"úmb dîne swester ist mir von herzen leit. 
die sihe ich sitzen nâhen dem eigenholden dîn. 
daz muoz ich immer weinen, sol si alsô verderbet sîn." 

[...]

 
Nibelungenlied 97

 
 

10. Aventiure
       Wie Brünhild in Worms empfangen wurde

At a great feast in honor of the new queen, Kriemhild and Siegfried are betrothed. Brünhild’s suspicion is aroused because a vassal, as Siegfried is suppposed to be, is to become Kriemhild’s husband.

(618) Der König und die jungfräuliche Brünhild hatten nun an der Tafel Platz genommen. Da sah sie zu ihrem tiefen Schmerz Kriemhild an der Seite Siegfrieds sitzen. Sie begann zu weinen und heiße Tränen rannen ihr über die blühenden Wangen.

(619) Da sagte der Herr des Landes: "Liebe Frau, was fehlt Euch, daß sich der Glanz Eurer strahlenden Augen so sehr trübt? Ihr habt allen Grund, Euch sehr zu freuen: mein Land und meine Burgen und viele stattliche Männer sind Euch jetzt untertan."

(620) "Ich habe allen Grund, sehr heftig zu weinen", sagte die schöne Jungfrau. "Über Deine Schwester bin ich tief bekümmert; denn die sehe ich dicht neben einem Deiner unfreien Gefolgsleute sitzen. Wenn sie auf eine solche Weise entehrt wird, dann werde ich nicht aufhören, darüber zu klagen."

98 Nibelungenlied

 

 
670 Do er niht wolde erwinden, diu maget ûf spranc: 670 
"ir ensúlt mir niht zerfüeren mîn hémdé sô blanc. 
ir sît vil ungefüege: daz sol iu werden leit! 
des bringe ich iuch wol innen", sprach diu wætlîche meit. 

671 Si beslôz mit armen den tiuwerlîchen degen 671 
dô wolde si in gebunden alsam den künec legen, 
daz si an dem bette möhte haben gemach. 
daz er ír die wât zerfuorte, diu frouwe ez grœzlîchen rach. 

672 Waz half sîn grôziu sterke unt ouch sîn michel kraft? 672 
si erzeigete dem degene ir lîbes meisterschaft. 
si truoc in mit gewalte (daz muose et alsô sîn) 
unt druhte in ungefuoge zwischen die wánt und ein schrîn. 

673 "Owê", gedâhte der recke, "sol ich nu mînen lîp 673 
von einer magt verliesen, sô mugen elliu wîp 
her nâch immer mêre tragen gelpfen muot 
gégen ir manne, diu ez sus nímmér getuot." 

674 Der künec ez wol hôrte, er angeste umb den man. 674 
Sîfrit sich schámte sêre, zurnen er began. 
mit ungefüeger krefte sázte ér sich wider; 
er versúochte ez angestlîche an froun Prünhilde sider. 

675 Den künec ez dûhte lange ê er si betwanc. 675 
si druhte im sîne hende, daz ûz den nageln spranc 
daz bluot im von ir krefte; daz was dem helde leit. 
sît brâhte er an ein lougen die vil hêrlîchen meit 

676 Ir ungefüeges willen des si ê dâ jach. 676 
der künec ez allez hôrte, swie er niht ensprach. 
er druhtes an daz bette, daz si vil lûte erschrê; 
ir tâten sîne krefte harte grœzlîchen wê. 

677 Dô gréif sî zir sîten, dâ si den porten vant, 677 
unt wolte in hân gebunden. dô werte ez sô sîn hant, 
daz ir diu lit erkrachten unt ouch al der lîp. 
des wart der strît gescheiden: dô wart si Guntheres wîp.

 
Nibelungenlied 99

 

Brünhild wants to know the reason for the match between Kriemhild and Siegfried, and when Gunther attempts to consummate their marriage, she ties him up and swears that she will remain a virgin until she finds out. Gunther complains to Siegfried of Brünhild’s treatment of him, and again calls on Siegfried for help. On the next night Siegfried, making use of his cloak of invisibility, comes into the bedchamber to break Brünhild’s resistance. There follow now scenes which more than border on the burlesque.

(670) Als er von seinem Vorhaben nicht ablassen wollte, da sprang Brünhild auf: "Reißt doch nicht so an meinem weißen Hemd!" sagte das schöne Mädchen. "Wirklich, Ihr könnt Euch nicht benehmen! Das wird Euch noch teuer zu stehen kommen. Ich werde es Euch schon zeigen!"

(671) Sie spannte ihre Arme um den kühnen Siegfried und hatte vor, ihn wie den König Gunther zu binden, um endlich in ihrem Bett Ruhe zu haben. Schrecklich rächte sich die Herrin dafür, daß er an ihren Kleidern gezerrt hatte.

(672) Was half ihm seine große Stärke und seine ungeheure Kraft? Sie bewies ihm, wie überlegen sie war: mit Gewalt—und er konnte nichts dagegen tun—ergriff sie ihn und preßte ihn ungestüm zwischen die Wand und einen Schrank.

(673) "Ach", dachte der Recke, "wenn ich hier jetzt mein Leben von der Hand eines Mädchens verliere, dann werden nachher alle Frauen, die sonst gar nicht auf solche Gedanken kämen, auf immer ihren Übermut an ihren Männern auslassen."

(674) Der König hörte alles mit und machte sich Sorgen um den Freund. Die Schande machte Siegfried zornig. Unter Aufbietung aller Kräfte leistete er Widerstand, und mit dem Mute der Verzweiflung versuchte er, Frau Brünhild zu überwinden.

(675) Dem König schien es unendlich lange, bis Siegfried sie in seine Gewalt bekam. Mit so festem Griff preßte Brünhild ihm die Hände, daß ihm das Blut aus den Nägeln sprang und ein furchtbarer Schmerz ihn durchzuckte. Dennoch brachte er das herrliche Mädchen wenig später dazu,

(676) die unschicklichen Verwünschungen, die sie gegen Gunther ausgestoßen hatte, zu widerrufen. König Gunther hörte alles, wenn auch Siegfried nichts sagte. Der kräftige Mann drückte Brünhild mit solcher Stärke gegen ein Bett, daß sie laut aufschrie und ein furchtbarer Schmerz sie durchfuhr.

(677) Da griff sie nach ihrem Gürtel, den sie um ihre Hüften trug, und wollte ihn binden. Er aber wehrte sich so, daß ihre Glieder und ihr ganzer Körper krachten. Und damit war der Kampf entschieden. Brünhild wurde nun Gunthers Frau.

100 Nibelungenlied

 

 
678 Si sprach: "künec edele, du solt mich leben lân! 678 
ez wirt vil wol versüenet, swaz ich dir hân getân. 
ich gewér mich nimmer mêre der edelen minne dîn. 
ich hân daz wol erfunden, daz du kanst frouwen meister sîn." 

679 Sîfrit stuont dannen, lígen líe er die meit, 679 
sam er von im ziehen wolde sîniu kleit. 
er zôch ir ab der hende ein guldîn vingerlîn, 
daz si des nie wart innen, díu édele künegîn. 

680 Dar zuo nam er ir gürtel, daz was ein porte guot. 680 
ine wéiz ob er daz tæte durch sînen hôhen muot. 
er gap ez sînem wîbe; daz wart im sider leit. 
dô lâgen bî ein ander Gunther unt diu schœne meit. 

681 Er pflac ir minneclîchen, als im daz gezam, 681 
dô muoste si verkiesen ir zorn und ouch ir scham. 
von sîner heimlîche si wart ein lützel bleich. 
hei waz ir von der minne ir grôzen kréfté gesweich! 

682 Done wás ouch si niht sterker danne ein ander wîp. 682 
er trûte minneclîche den ir vil schœnen lîp. 
ob siz versuochte mêre, waz kunde daz vervân? 
daz het ir allez Gunther mit sînen mínnén getân. 

[...]

 
Nibelungenlied 101

 

(678) Sie sagte: "Edler König, laß mir mein Leben! Ich will es wiedergutmachen, was ich Dir angetan habe. Niemals wieder will ich mich Deinen Zärtlichkeiten widersetzen. Denn ich weiß nun, daß Du verstehst, eine Frau zu bezwingen."20

(679) Siegfried trat nun zur Seite, ließ Brünhild liegen und tat so, als ob er sich entkleiden wollte. Ohne daß die edle Königin es merkte, zog er von ihrer Hand einen goldenen Ring.

(680) Außerdem nahm er ihren Gürtel, eine ausgezeichnete Wirkarbeit. Ich kann allerdings nicht sagen, ob sein Hoher Mut ihn dazu veranlaßte.21 Jedenfalls schenkte er beides seiner Frau. Das mußte er später büßen. Gunther und die schöne Brünhild aber lagen jetzt beieinander.

(681) Liebevoll, wie es ihm als Ehemann zukam, umarmte er sie. Da mußte sie ihren früheren Zorn und alle jungfräuliche Scheu aufgeben. Das Beilager hatte eine solche Wirkung auf sie, daß sie erblaßte und ihre früheren magischen Kräfte verlor.

(682) Nun war sie auch nicht mehr stärker als andere Frauen. Zärtlich hielt er ihren schönen Körper umfangen. Was hätte es auch genützt, wenn sie noch weiterhin Widerstand geleistet hätte? Durch seine Umarmungen hatte Gunther ihr ihre Kraft genommen.

 

Siegfried takes back with him to Xanten the girdle and ring he has taken from Brünhild and later gives them to his wife—a fatal error. Siegfried becomes the ruler of his father's kingdom. Nevertheless, Brünhild continues to brood over the thought that Kriemhild is married to a vassal, and she complains that Siegfried is not performing a liegeman’s service to his lord. Later Gunther invites Siegfried and Kriemhild to a feast. At first things go well, but then the two queens quarrel over a question of precedence: who is to enter the church first. In her anger, Kriemhild foolishly produces the ring and girdle Siegfried had given her, claiming it as proof that it was Siegfried, not Gunther, who had taken Brünhild’s virginity. Although Siegfried swears that this is not true and punishes Kriemhild for saying it, the damage is done.

102 Nibelungenlied

 

16. Aventiure
       Wie Sîfrit erslagen wart

 
980 Do engalt er sîner zühte. den bogen unt daz swert, 980 
daz truoc allez Hagene von im dannewert. 
dô spranc er hin widere da er den gêr dâ vant. 
er sach nâch einem bilde an des küenén gewant. 

981 Dâ der herre Sîfrit ob dem brunnen tranc, 981 
er schôz in durch daz kriuze daz von der wunden spranc 
daz bluot im von dem herzen vaste an die Hagenen wât. 
so grôze missewende ein helt nu nimmer mêr begât. 

982 Den gêr im gein dem herzen stecken er dô lie. 982 
alsô grimmeclîchen ze flühten Hagen nie 
gelief noch in der werlde vor deheinem man. 
dô sich der herre Sîfrit der starken wúndén versan, 

983 Der herre tobelîchen von dem brunnen spranc. 983 
im ragete von den herten ein gêrstange lanc. 
der fürste wânde vinden bogen oder swert: 
sô müese wesen Hagene nâch sînem díensté gewert. 

984 Dô der sêre wunde des swertes niht envant, 984 
done hét et er niht mêre wan des schildes rant. 
er zuhte in von dem brunnen, dô lief er Hagenen an. 
done kunde im niht entrinnen des künec Guntheres man. 

985 Swie wunt er was zem tôde, sô krefteclîch er sluoc, 985 
dáz ûz dem schilde dræté genuoc 
des edelen gesteines; der schilt vil gar zerbrast. 
sich hete gerne errochen der vil hêrlîche gast. 

986 Dô was gestrûchet Hagene vor sîner hant zetal. 986 
von des slages krefte der wert vil lûte erhal.

 
Nibelungenlied 103

 

16. Aventiure
       Wie Siegfried erschlagen wurde

Gernot und Hagen are only too glad to be provided with an excuse for avenging the supposed insult to Gunther's honor, and they convince Gunther that this can be done only by slaying Siegfried. Kriemhild naïvely reveals to Hagen the spot between the shoulder blades where Siegfried is vulnerable because a leaf had fallen there when he bathed in the dragon’s blood. A hunt is then arranged and Hagen deliberately does not bring the wine. When thirst overcomes them, he challenges Siegfried to a footrace to a nearby spring, so that when they get there Siegfried will be forced to remove his armor in order to drink, laying bare his vulnerable spot. Siegfried easily reaches the spring first but courteously waits until Gunther has drunk before bending down to quench his own thirst.

(980) Das mußte er für seine edle Zurückhaltung büßen. Bogen und Schwert trug Hagen beiseite. Dann rannte er zur Linde, wo der Speer lehnte, und suchte nach dem Zeichen am Jagdgewand des Tapferen.

(981) Da der Herr Siegfried an der Quelle trank, traf Hagen ihn durch das Zeichen hindurch mit dem Speer, daß sein Herzblut im hohen Bogen aus der Wunde an Hagens Wams22 spritzte. Eine so schwere Untat kann heute kein Held mehr begehen.

(982) Hagen ließ ihm den Speer im Herzen stecken. Er selbst wendete sich in solch rasender Hast zur Flucht, wie er niemals vorher vor einem Menschen geflohen war.23 Als nun der Herr Siegfried die schwere Wunde fühlte,

(983) da sprang er in sinnloser Wut vom Brunnen auf. Von seinen Schulterblättern ragte eine lange Speerstange auf. Der König24 glaubte, Bogen und Schwert zu finden, und dann hätte Hagen den Lohn für seinen verräterischen Dienst empfangen.

(984) Als aber der Todwunde sein Schwert nicht fand, da hatte er nichts anderes als seinen Schild. Er riß ihn vom Rand des Brunnens hoch. Da rannte er auf Hagen los. Da konnte ihm König Gunthers Gefolgsmann nicht mehr entkommen.

(985) Wenn er auch tödlich verwundet war, er schlug doch noch mit solcher Wucht zu, daß viel edles Gestein aus dem Schild herausbrach und der Schild selbst völlig zerbarst. Der herrliche Held hatte nur noch den einen Wunsch, sich zu rächen.

(986) Da war Hagen unter dem Schlag Siegfrieds, von dessen Gewalt die ganze Halbinsel laut widerhallte, zu Boden gestürzt

104 Nibelungenlied

 

 
het er daz swert enhende, sô wære ez Hagenen tôt. 
sô sêre zurnte der wunde; des gie im wærlîchen nôt. 

987 Erblichen was sîn varwe: ern kunde niht gestên. 987 
sînes lîbes sterke diu muose gar zergên 
wande er des tôdes zeichen in liehter varwe truoc. 
sît wart er beweinet von schœnen fróuwén genuoc. 

988 Dô viel in die bluomen der Kriemhilde man. 988 
daz bluot von sîner wunden sach man vil vaste gân. 
dô begunde er schelten (des gie im grôziu nôt) 
die ûf in gerâten héten den úngetriuwen tôt. 

989 Dô sprach der verchwunde: "jâ ir bœsen zagen, 989 
waz helfent mîniu dienest, daz ir mich habet erslagen? 
ich was iu ie getriuwe: des ich engolten hân. 
ir habt an iuwern mâgen leider übele getân. 

990 Die sint dâ von bescholten swaz ir wirt geborn 990 
her nâch disen zîten. ir habet iuwern zorn 
gerochen al ze sêre an dem lîbe mîn. 
mit laster ir gescheiden sult von guoten recken sîn." 

991 Die ritter alle liefen da er erslagen lac. 991 
ez was ir genuogen ein freudelôser tac. 
die iht triuwe hêten, von den wart er gekleit. 
daz het wol verdienet der ritter küene únt gemeit. 

992 Der künec von Burgonden klagte sînen tôt. 992 
dô sprach der verchwunde: "daz ist âne nôt, 
daz der nâch schaden weinet, der in hât getân. 
der dient michel schelten: ez wære bézzér verlân." 

993 Dô sprach der grimme Hagene: "jane wéiz ich waz er kleit. 993 
ez hât nu allez ende unser sórge unt unser leit. 
wir vinden ir vil wênec, die türren uns bestân. 
wol mích daz ich sîner hêrschaft hân ze râté getân." 

994 "Ir muget iuch lîhte rüemen", sprach dô Sîfrit. 994 
"het ich an iu erkennet den mortlîchen sit, 
ich hete wol behalten vor iu mînen lîp. 
mich riuwet niht sô sêre sô frou Kriemhilt mîn wîp.

 
Nibelungenlied 105

 

Hätte er sein Schwert in den Händen gehabt, es wäre Hagens Tod gewesen: So schrecklich tobte der Verwundete, und er hatte allen Grund zu seinem rasenden Zorn.

(987) Die Farbe war aus seinem Gesicht entwichen, er konnte sich schon nicht mehr auf den Beinen halten. Die Kraft seiner Glieder schwand dahin, denn der Tod hatte seine strahlende Stirn bereits mit seinem Mal gezeichnet. Später wurde er von unzähligen schönen Frauen beklagt.

(988) Da sank der Gemahl Kriemhilds in die Blumen. Aus seiner Wunde rann unablässig das Blut. In seiner Todesnot hub er an, mit den Männern, die in ihrer Treulosigkeit den Mordplan gefaßt hatten, zu hadern.25

(989) Da sagte der todwunde Held: "Ach, Ihr gemeinen Feiglinge! Was haben mir nun meine Dienste genützt, daß Ihr mich jetzt doch ermordet habt? Ich war Euch immer treu ergeben, und dafür habe ich jetzt bezahlen müssen. An Euren eigenen Verwandten habt Ihr Euch schrecklich vergangen:

(990) Denn wer von nun an in diesem Geschlecht geboren wird, der ist mit einem schlimmen Makel behaftet. In Eurem blinden Zorn habt Ihr Euch dazu hinreißen lassen, an mir maßlose Rache zu üben. Mit Schande sollt Ihr aus der Reihe der trefflichen Recken ausgestoßen sein!"

(991) Die Ritter eilten nun alle dorthin, wo er in seinem Blute lag. Für sie alle war dies ein leidvoller Tag. Wer überhaupt noch ein Gefühl der Treue in sich spürte, von dem wurde Siegfried beklagt. Das hatte Siegfried, der tapfere, stolze Ritter, auch wirklich verdient.

(992) Sogar der König der Burgunden beweinte seinen Tod. Da sagte der Sterbende: "Es ist unnötig, daß der, der die Untat vollbracht hat, sie nachher auch noch beklagt. Der verdient, daß man ihn schilt: Die Tat wäre besser ungeschehen geblieben."

(993) Da sagte der grimmige Hagen: "Ich weiß überhaupt nicht, worüber Ihr weint. Mit all unseren Ängsten und mit all unserer Schmach, damit ist es jetzt vorbei. Es gibt jetzt nur noch wenige, die wider uns anzutreten wagen. Ich jedenfalls rechne es mir als Glück an, daß ich seiner Herrschaft ein Ende gesetzt habe."

(994) "Ihr habt keinen Grund, auch noch zu prahlen!" sagte da Siegfried. "Hätte ich Eure hinterhältige Mordlust früher erkannt, dann hätte ich mich vor Euch zu schützen gewußt. Jetzt quält mich nichts so sehr wie die Sorge um Kriemhild, meine Frau.

 
106 Nibelungenlied

 

 
995 Nu müeze got erbarmen daz ich íe gewan den sun, 995 
dem man itewîzen sol nâch den zîten tuon, 
daz sîne mâge iemen mórtlîche hân erslagen. 
möhte ich", so sprach Sîfrit, "das solde ich billîche klagen." 

996 Dô sprach jæmerliche der vérchwúnde man: 996 
"welt ir, künec edele, triuwen iht begân 
in der werlt an iemen, lât iu bevolhen sîn 
ûf iuwér genâde die holden triutinne mîn. 

997 Und lât si des geniezen, daz si íuwer swester sî. 997 
durch aller fürsten tugende wont ir mit triuwen bî. 
mir müezen warten lange mîn vater und mîne man. 
ez enwárt nie frouwen leider an liebem fríundé getân." 

998 Die bluomen allenthalben von bluote wurden naz. 998 
dô ranc er mit dem tôde. unlange tet er daz, 
want des tôdes wâfen ie ze sêre sneit. 
dô mohte reden niht mêre der recke küene unt gemeit. 

999 Dô die herren sâhen daz der helt was tôt, 999 
si leiten in ûf einen schilt, der was von golde rôt, 
und wurden des ze râte, wie daz solde ergân 
daz man ez verhæle, daz ez héte Hagene getân. 

1000 Dô sprâchen ir genuoge: "úns ist übel geschehen. 1000 
ir sult ez heln alle unt sult gelîche jehen, 
da er ríte jagen eine, der Kriemhilde man, 
in slüegen schâchære, dâ er füere durch den tan." 

1001 Dô sprach von Tronege Hagene: "ich bringe in in daz lant. 1001 
mir ist vil unmære, und wirt ez ir bekant, 
diu sô hât betrüebet den Prünhilde muot. 
ez ahtet mich vil ringe, swaz si wéinéns getuot." 

[...]

 
Nibelungenlied 107

 

(995) Gott möge mir gnädig sein, daß er mir den Sohn schenkte, den man von nun an mit dem Makel belasten wird, daß seine Verwandten jemanden heimtückisch umgebracht haben. Hätte ich noch die Kraft", so sagte Siegfried, "dann hätte ich allen Grund, darüber zu klagen."

(996) Da sagte der todwunde Held mit schmerzbewegter Stimme: "Wenn Ihr, edler König, Euch in dieser Welt auch nur einem Menschen gegenüber treu erweisen wollt, dann nehmt Euch fürsorglich meiner lieben Frau an.

(997) Und laßt es ihr zugute kommen, daß sie Eure Schwester ist. Beim Edelmut aller Fürsten beschwöre ich Euch: steht ihr treu zur Seite. Nun werden mein Vater und meine Gefolgsleute lange auf mich warten müssen. Noch niemals haben liebe Verwandte einer Frau so übel mitgespielt."

(998) Vom Blut Siegfrieds färbten sich überall die Blumen rot. Da lag er in seinem Todeskampf. Doch es dauerte nicht lange. Denn die Sichel des Todes schnitt wie seit alters scharf zu. Da versagte dem tapferen, stolzen Helden die Stimme.

(999) Als die Herren nun sahen, daß der Held tot war, da legten sie ihn auf einen goldroten Schild und überlegten, wie man es verhehlen könnte, daß Hagen der Täter war.

(1000) Da sagten viele: "Es ist eine böse Sache! Ihr solltet es ganz und gar vertuschen und alle übereinstimmend aussagen, Räuber hätten Kriemhilds Mann erschlagen, da er durch den Wald ritt und allein auf der Pirsch war."

(1001) Da sagte Hagen von Tronje: "Ich bringe ihn nach Worms. Mir ist es gleich, ob die Frau, von der Brünhild so heftig gekränkt wurde, es erfährt. Wie sehr sie auch weint—es rührt mich nicht."

 

Thus Hagen makes no pretense at hiding his crime. Siegfried’s body is dumped unceremoniously outside Kriemhild’s door where it is found by a servant. Siegmund quickly comes to Worms when he hears of Siegfried’s death. A fight almost breaks out, especially when the body starts to bleed when Hagen approaches, a sure sign by medieval standards that the murderer was near («Bahrprobe»). Further bloodshed is averted, and Kriemhild elects to stay with Gunther rather than go home to Xanten.

Siegfried’s treasure («Nibelungenhort») is brought to Worms, and when Kriemhild, seeking to win a following, starts to make liberal presents to various warriors, Hagen persuades Gunther against the objections of Giselher (1130ff.) to take it from her. While the brothers are away, Hagen sinks the treasure in the Rhine near Lochheim.

Kriemhild mourns her husband for thirteen years, when a message arrives from Etzel, seeking her hand in marriage. The bearer of the message is Rüdiger, Margrave of Bechelaren, and it is largely out of respect for him that all the brothers agree to the marriage, against the determined opposition of Hagen, who senses its dangers. Kriemhild at first refuses to consider the offer and only after long persuasion by her brothers and Rüdiger she finally consents—after extorting a promise form Rüdiger that whatever wrong is done to her, he will avenge it.

108 Nibelungenlied

 

27. Aventiure
        Wie si ze Bechlâren kômen

 
1667 Diu junge marcgrâvinne diu nam bî der hant 1667 
Gîselher den recken von Burgonden lant. 
alsam tet ouch ir muoter Gúnther den küenen man. 
si giengen mit den helden vil harte vrœlîche dan. 

1668 Der wirt gie bî Gêrnôte in einen wîten sal. 1668 
ritter unde frouwen gesâzen dâ zetal. 
dô hiez man balde schenken den gesten guoten wîn. 
jane dórften nimmer helde baz gehándélet sîn. 

1669 Mit lieben ougen blicken wart gesehen an 1669 
diu Rüedegêres tochter; diu was sô wol getân. 
jâ trûtes in den sinnen vil manec ritter guot. 
daz kunde ouch si verdienen: si was vil hôhé gemuot. 

1670 Si gedâhten swes si wolden: des enmóhte aber níht geschehen. 1670 
hín und hér wíderé wart dâ vil gesehen 
an mägede und an frouwen, der saz dâ genuoc. 
der edele videlære dem wirte holden willen truoc. 

  

108.jpg 
 
 
Nibelungenlied 109

 

There follows a long description of the journey to Etzel’s court, of the reception by Rüdiger's family, the arrival, and the marriage to Etzel. Kriemhild is given a great deal of power, but although she is married to the king and bears him a son, she still mourns for Siegfried and blames her brothers for forcing her to marry a heathen. After seven years she persuades Etzel to invite her brothers to his court. She makes sure that Hagen will be included in the party. He has strong misgivings about the purpose of the invitation, and when his advice to refuse it is disregarded, he collects a large band of heavily armed men to accompany the king and his brothers.

The Burgundians set out for Etzel’s domain. When they reach the Danube, they find merwomen bathing. Hagen, who apparently knows of their power to foretell the future, steals their clothes to force them to make a prediction. While he has their clothes, they foretell a happy outcome for the journey but afterwards tell him that only the chaplain with the party will return alive. The ferryman who possesses the only means of crossing the river is a liegeman of King Gelpfrat and refuses to ferry possible enemies of his master across. He is tricked by Hagen, who says he is Amelrich, a vassal of Gelpfrat’s brother Else, but on discovering the deceit he attacks Hagen with an oar. Hagen cuts off his head and ferries his companions across himself. While doing so he tests the merwomen’s prophecy by throwing the chaplain into the water. He survives, even though he cannot swim. (At this point—strophe 1528—Hagen is convinced of the inevitable doom of his party.) On the other side of the river the Burgundians are attacked by the forces of King Gelpfrat, but they repel the assault. At Rüdiger’s castle26 they are received with great joy.

 

27. Aventiure
        Wie sie nach Bechelaren kamen

(1667) Die junge Markgräfin nahm Giselher, den Recken aus dem Burgundenland, bei der Hand.27 So tat auch ihre Mutter und faßte Gunther an, den tapferen Helden. Fröhlich gingen sie mit den Helden davon.

(1668) Der Hausherr ging an der Seite Gernots in einen großen Saal. Dort setzten Ritter und Damen sich nieder. Da ließ man den Gästen sogleich vorzüglichen Wein einschenken. Wirklich, niemals hätten Helden besser bewirtet sein können!

(1669) Rüdigers Tochter wurde mit liebevollen Blicken angeschaut; denn sie war so schön. Vielen trefflichen Rittern kamen zärtliche Gedanken bei ihrem Anblick. Solche Aufmerksamkeit hatte sie auch verdient. Sie war sehr hochgemut.

(1670) In Gedanken ließen die Ritter ihren Wünschen, die sich doch nicht erfüllen konnten, freien Lauf. Hin und her gingen ihre Blicke, von den Jungfrauen zu den Damen, die da in großer Zahl saßen. Der edle Spielmann war dem Hausherrn von Herzen zugetan.

110 Nibelungenlied

 

 
1671 Nâch gewonheite sô schieden si sich dâ; 1671 
ritter unde frouwen die giengen anderswâ. 
dô rihte man die tische in dem sale wît. 
den unkunden gesten man diente hêrlîche sît. 

1672 Durch der geste liebe hin ze tische gie 1672 
diu edele marcgrâvinne. ir tochter si dô lie 
belîben bî den kinden, dâ si von rehte saz. 
die geste ir niht ensâhen. si muote wærlîchen daz. 

1673 Dô si getrunken hêten unt gezzen über al, 1673 
dô wîste man die schœnen wider in den sal. 
gämelîcher sprüche wart dâ niht verdeit. 
der redete vil dâ Volkêr, ein degen küene únt gemeit. 

1674 Dô sprach offenlîchen der edel spilman: 1674 
"rîcher marcgrâve, got hât an iu getân 
vil genædeclîchen, wande er iu hât gegeben 
ein wîp sô rehte schœne, dar zuo ein wunneclîchez leben. 

1675 Ob ich ein fürste wære", sprach der spilman: 1675 
"unde solde ich tragen krône, ze wîbe wolde ich hân 
die iuwern schœnen tochter; des wünschet mir der muot. 
diu ist minneclîch ze sehene, dar zuo edel unde guot." 

1676 Dô sprach der marcgrâve: "wie möhte daz gesîn, 1676 
daz immer künec gerte der lieben tochter mîn? 
wir sîn hie ellende, beide ich und mîn wîp: 
waz hülfe grôziu schœne der guoten júncfróuwen lîp?" 

1677 Des antwurte Gêrnôt, der wol gezogen man: 1677 
"und solde ich triutinne nâch mînem willen hân, 
sô wolde ich solhes wîbes immer wesen vrô." 
des antwurte Hagene vil harte güetlîchen dô: 

1678 "Nu sol mîn herre Gîselher nemen doch ein wîp: 1678 
ez ist sô hôher mâge der marcgrâvinne lîp, 
daz wir ir gerne dienten, ich unde sîne man, 
und soldes under krône dâ zen Búrgónden gân." 

1679 Diu rede Rüedegêren dûhte harte guot 1679 
und ouch Gotelinde: jâ freutes in den muot.

 
Nibelungenlied 111

(1671) Wie es der Brauch forderte, trennten sie sich dann. Ritter und Damen gingen auseinander. Da deckte man in dem weiträumigen Saal die Tische. Die fremden Gäste wurden herrlich bewirtet.

(1672) Den Gästen zuliebe ließ sich die edle Markgräfin an deren Tisch nieder. Ihre Tochter ließ sie bei den Mädchen, wo sie ihrem Alter nach auch hingehörte. Die Gäste konnten sie nun nicht mehr sehen. Das verdroß sie wirklich sehr.

(1673) Als sie nun getrunken und gespeist hatten, da schickte man das schöne Mädchen wieder in den Saal. Da unterhielt man sich mit lustigen Sprüchen. Die meisten kamen von Volker, dem tapferen, stolzen Helden.

(1674) Da sagte der edle Spielmann vor allen Anwesenden: "Mächtiger Markgraf, Gott ist Euch sehr gnädig gewesen, denn er hat Euch eine sehr schöne Gemahlin und ein freudenvolles Leben geschenkt.

(1675) Wenn ich ein Fürst wäre", sagte der Spielmann, "und eine Krone tragen dürfte, dann würde ich Eure schöne Tochter zur Frau nehmen; danach steht all mein Verlangen. Sie ist so lieblich anzuschauen, zudem edel und vorbildlich."

(1676) Da sagte der Markgraf: "Wie könnte es sein, daß jemals ein König Verlangen hätte nach meiner lieben Tochter? Ich und meine Frau, wir leben als Heimatlose in diesem Land; was nützt denn der edlen Jungfrau ihre große Schönheit?"

(1677) Darauf antwortete Gernot, der wohlerzogene Mann: "Sollte ich eine liebe Frau ha-ben, wie ich sie mir wünsche: ich würde mich über eine solche Gemahlin allezeit freuen." Darauf antwortete Hagen sehr freundlich:

(1678) "Nun soll doch mein Herr Giselher eine Gemahlin nehmen; die Markgräfin ist von so hoher Abstammung, daß wir ihr mit Freude dienen würden, ich und meine Gefolgsleute, wenn sie im Burgundenland die Krone trüge."

(1679) Diese Worte hörten Rüdiger und auch Gotelind sehr gern. Sie freuten sich darüber.
112 Nibelungenlied

 

 
sît truogen an die helde daz si ze wîbe nam 
Gîselher der edele, als ez wol künege gezam. 

1680 Swaz sich sol gefüegen, wer mac daz understén? 1680 
man bat die juncfrouwen hin ze hove gên. 
dô swuor man im ze gebene daz wüneclîche wîp. 
dô lobte ouch er ze minnen den ir vil minneclîchen lîp 

[...] 

 
Nibelungenlied 113

 

Sofort waren sich die Helden einig, daß der edle Giselher Gotelind zur Frau nehmen sollte, wie es sich für ihn als König durchaus geziemte.

(1680) Wer kann gegen das angehen, was sich ereignen soll? Man rief die Jungfrau, vor die Könige zu kommen. Da schwur man, man wolle ihm das reizende Mädchen zur Frau geben. Da gelobte auch Giselher feierlich, sie zu heiraten.

The marriage takes place, and the journey continues. Dietrich, who is at Etzel’s court, warns the king and his men of Kriemhild’s unrelenting grief and hatred, so that when she tells them to leave their weapons outside, they are prepared and refuse. The meeting with Kriemhild is hostile. Only Giselher is treated with affection. Kriemhild’s early attempts to bribe and incite her men against Hagen and Volker are unsuccessful, but at a tournament the first blood is drawn by Hagen.

There follows a series of individual combats and specific events, each of which is worked into the larger contest between the forces of Etzel, who are fighting under the urging of Kriemhild, and the Burgundians, who are all eager for glory and who are inspired by Hagen who brags about having killed Siegfried (strophe 1790). Dankwart, the Burgundian, kills Blödel, Etzel’s brother, and many others, but the real turning point is reached when Hagen, without provocation, cuts down with Siegfried’s sword, Balmung, Ortlieb, the son of Etzel and Kriemhild (strophe 1961), Etzel’s only son and heir, effectively eradicating even the slimmest chance of reconciliation. A general battle ensues in which the Burgundians prove decidedly superior. Dietrich, who stays out of the fighting, saves Etzel, Kriemhild, and his own followers by arranging a short truce with Gunther, and Rüdiger and his men also obtain permission to leave the hall. Iring of Denmark challenges Hagen and wounds him, but is himself killed during their second encounter. After a great slaughter, Kriemhild has the hall set on fire, but even this fails to dislodge the Burgundians. Rüdiger has up to now taken no part in the fighting and one of the Huns taunts him for it. He strikes the man dead with his fist, but it is not so easy to deal with Etzel’ reproaches.
 
 



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