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236 Gottfried von Straßburg: Tristan
 
 
 
6150 und durch des landes armekeit 6150 
getürre nâch dem rehten 
in gotes namen vehten 
gegen dem einem manne, 
geruochet ir es dann 
6155 an got gelâzen unde an mich, 6155 
deiswâr, ir hêrren, sô wil ich 
mîne jugent und mîn leben 
durch got an âventiure geben 
und wil den kampf durch iuch bestân." 
[...] 
wan den ich eine sol bestân, 
als ich vil wol vernomen hân, 
6175 der ist von muote und ouch von craft 6175 
ze ernestlîcher ritterschaft 
ein lange her bewæret man. 
sô gân ich alrêrest an 
an muote und an der crefte 
6180 und bin ze ritterschefte 6180 
niht alsô kürbære, 
als uns nu nôt wære. 
wan daz ich aber zer vehte 
an gote und ouch an rehte 
6185 zwô sigebære helfe hân, 6185 
die suln mit mir ze kampfe gân! 
dar zuo hân ich willigen muot, 
der selbe ist ouch ze kampfe guot. 
[...] 
Tristan beleip al eine dâ. 
der swebete dâ wâ unde wâ 
7505 mit jâmer und mit sorgen 7505 
unz an den liehten morgen. 
unde als die von Develîn 
daz wîselôse schiffelîn 
in dem wâge ersâhen, 
7510 sie hiezen balde gâhen 7510 
und nemen des schiffelînes war. 
die boten die kêrten iesâ dar. 
nu sî begunden nâhen 
und dannoch nieman sâhen, 
7515 nu gehôrten s’al dort her 7515 
suoze unde nâch ir herzen ger 
eine süeze harpfen clingen
 
Gottfried von Straßburg: Tristan 237

 

(6150) und der verzweifelten Lage des Reiches / sich getraute, um das Recht / im Namen Gottes zu kämpfen / gegen diesen einen Mann, / dann überlaßt es

(6155) Gott und mir. / Wahrlich, Ihr Herren, ich will in diesem Falle / meine Jugend und mein Leben / um Gottes willen dem Schicksal anheimgeben / und für Euch den Kampf wagen.10
[...]

Denn der, gegen den ich allein kämpfen soll, ist, / wie ich gehört habe,

(6175) in Tapferkeit und Stärke / bei ritterlichen Kämpfen / seit langem ausgewiesen. / Ich dagegen beginne erst / mit Tapferkeit und Stärke / und bin für den Kampf

(6180) nicht so vorzüglich, / wie es uns jetzt not täte. / Allerdings habe ich beim Kampf / in Gott und dem Recht

(6185) zwei siegbringende Helfer, / die mit mir in den Kampf gehen werden. / Außerdem habe ich meine feste Entschlossenheit, / die ebenfalls beim Kampfe hilft.

 

The two combatants set sail for the island where the fight takes place, a form of duel that is probably derived from the Nordic «Holmgangr», or island fight. Their encounter is far from chivalrous. Tristan is wounded, and Morold tells him that the wound contains poison and that he can be cured only by the queen, Morold’s own sister. Instead of making him yield, the revelation arouses Tristan to fury, and he strikes his opponent down, leaving in his skull a chip of his sword blade. He returns to Marke’s court amid great rejoicing, but his wound will not heal and it festers; its stench is so offensive that he is shunned by everyone. He decides to go to Ireland and after completing most of the journey in a ship, he is set adrift in a small boat with only his harp for company (See the illustrations on pp. 225/241).

Tristan blieb allein zurück. / Er trieb dort im Auf und Ab der Wellen

(7505) mit Kummer und Furcht / bis zum hellen Morgen. / Als die Bewohner von Dublin / das führerlose Boot / auf den Wellen erblickten, / ließen sie gleich hinsegeln

(7510) und das Boot untersuchen. / Die Boten machten sich sogleich dorthin auf. / Als sie sich näherten / und trotzdem niemanden bemerkten,

(7515) hörten sie von dort / wunderbar und zu ihrem Ergötzen / eine liebliche Harfe ertönen

238 Gottfried von Straßburg: Tristan

 
 

 
und mit der harpfen singen 
einen man sô rehte suoze, 
7520 daz sîz in z’eime gruoze 7520 
und ze âventiure nâmen 
und von der stat nie kâmen, 
die wîle er harpfete unde sanc. 
diu vröude diu was aber unlanc, 
7525 die sî von im hæten an de stete, 7525 
wan swaz er in dâ spiles getete 
mit handen oder mit munde, 
daz engie niht von grunde: 
daz herze dazn was niht dermite. 
7530 so enist ez ouch niht spiles site, 7530 
daz man’z dekeine wîle tuo, 
daz herze daz enstê darzuo. 
al eine geschehe es harte vil, 
ez enheizet doch niht rehte spil, 
7535 daz man sus ûzen hin getuot 7535 
âne herze und âne muot. 
wan daz diu jugent Tristanden 
mit munde und ouch mit handen 
ir z’einer kurzewîle twanc, 
7540 daz er ir harpfete unde sanc, 7540 
ez was dem marterære 
ein marter unde ein swære. 
[...] 
Aber sprach diu küniginne dô: 
7840 "Tantris, swenne ez gevüege alsô 7840 
daz dir dîn dinc alsô gestê, 
daz dirre smac an dir zergê 
und ieman bî dir müge genesen, 
sô lâ dir wol bevolhen wesen 
7845 dise jungen maget Isôte, 7845 
diu lernete ie genôte 
diu buoch und dar zuo seitspil 
und kan des ouch billîche vil 
nâch den tagen und nâch der vrist, 
7850 als sî derbî gewesen ist. 7850 
und kanstu keiner lêre 
und keiner vuoge mêre 
danne ir meister oder ich, 
des underwîse sî durch mich. 
7855 dar umbe wil ich dir dîn leben 7855
 
Gottfried von Straßburg: Tristan 239

 

und zu der Harfe singen / einen Mann so schön,
(7520) daß sie es für eine Begrüßung / und ein Wunder hielten / und sich nicht von der Stelle rührten, / solange er Harfe spielte und sang. / Die Freude dauerte aber nicht lange,

(7525) die sie an ihm dort hatten. / Denn was er ihnen dort vormusizierte / mit Händen und Mund, das kam nicht aus seinem Inneren. / Sein Herz war nicht dabei.

(7530) Es gehört zum Wesen der Musik, / daß man sie nicht lange betreiben kann, / wenn man nicht in Stimmung ist. / Wenn es auch oft geschieht, / so kann man es doch nicht wahre Musik nennen,

(7535) die man nur oberflächlich betreibt / ohne Herz und Gemüt. / Obwohl die Jugend Tristan / mit Mund und Hand / zur Unterhaltung zwang,

(7540) so daß er Harfe spielte und sang, / war es dem Leidenden doch / eine Qual und Beschwerde.

 

Tristan’s first contact with the people of Ireland is thus made through his music, even though it is the music of a dying man. Royal messengers question him about his background, and in relating to them his accomplishments, Gottfried takes the opportunity to give us a catalogue of skills and talents considered essential for the life of a successful courtier: diplomacy (l. 7563), mastery of the most common musical instruments, such as lyre, fiddle, harp, and rote, a medieval string instrument, variously supposed to have been a kind of lyre or lute (l. 7564f.), the ability to entertain an audience (l. 7566), and a command of several languages, a fact of which Gottfried had already informed us earlier, in ll. 3692ff. (Breton, Welsh, Latin, and French; in fact, Tristan knows quite a few more languages). The news of his playing reaches the ears of the tutor of Isolde, daughter of the king of Ireland, and he brings the minstrel, who calls himself Tantris, before the queen, also named Isolde. Tristan plays with renewed spirit.

Wieder sprach da die Königin:
(7840) "Tantris, wenn es sich ergibt / und deine Lage sich so verbessert, / daß dieser Geruch vergeht / und jemand bei dir bleiben kann, / dann laß dir anvertrauen

(7845) dieses Mädchen Isolde. / Sie studiert eifrig / Buchwissen und auch Saitenspiel / und kann ziemlich viel, / gemessen an der Zeit,

(7850) die sie damit verbracht hat. / Und wenn du noch andere Künste / oder Fertigkeiten beherrschst / als ihr Lehrer oder ich, / dann unterrichte sie mir zuliebe darin.

(7855) Ich will dir dafür dein Leben

240 Gottfried von Straßburg: Tristan

 
 

 
und dînen lîp ze miete geben 
wol gesunt und wol getân. 
diu mag ich geben unde lân, 
diu beidiu sint in mîner hant." 
7860 "jâ ist ez danne alsô gewant" 7860 
sprach aber der sieche spilman 
"daz ich sô wider komen kan 
und mit spil genesen sol, 
ob got wil, sô genise ich wol. 
7865 sæligiu küniginne, 7865 
sît daz iuwer sinne 
alsô stânt, als ir dâ saget, 
umbe iuwer tohter die maget, 
sô trûwe ich harte wol genesen. 
7870 ich hân der buoche gelesen 7870 
in der mâze und alsô vil, 
daz ich mir wol getrûwen wil, 
ich gediene iu wol ze danke an ir." 
[...] 
sît gie diu junge künigîn 
alle zît ze sîner lêre. 
an die sô leite er sêre 
7965 sînen vlîz und sîne stunde. 7965 
daz beste daz er kunde, 
sô schuollist, sô hantspîl, 
daz ich niht sunder zalen wil, 
daz leite er ir besunder vür, 
7970 daz sî nâch ir selber kür 7970 
ze lêre dar ûz næme, 
swes sô sî gezæme. 
Isôt diu schœne tete alsô: 
daz allerbeste, daz si dô 
7975 under allen sînen listen vant, 7975 
des underwant si sich zehant 
und was ouch vlîzec dar an, 
swes s’in der werlde began. 
ouch half si harte sêre 
7980 diu vordere lêre. 7980 
si kunde ê schœne vuoge 
und höfscheit genuoge 
mit handen und mit munde. 
diu schœne si kunde 
7985 ir sprâche dâ von Develîn, 7985 
 
 
Gottfried von Straßburg: Tristan 241

 

und deinen Körper als Lohn geben / in völliger Gesundheit und Schönheit. / Das kann ich tun und lassen. / Beides steht in meiner Macht."

(7860) "Ja, wenn es denn so ist", / erwiderte der kranke Spielmann, / "daß ich mich erholen kann / und geheilt werde durch mein Spiel, / so werde ich mit Gottes Willen geheilt.

(7865) Gesegnete Königin, / wenn Eure Absichten / so sind, wie Ihr sagt, / mit Eurer Tochter, dem Mädchen, / dann werde ich wohl gewiß geheilt werden.

(7870) Ich habe Bücher gelesen / in solchem Maße und so viele, / daß ich mir durchaus zutraue, / mir an ihr Eure Dankbarkeit zu verdienen."

 

The queen succeeds in curing Tristan, and in twenty days the wound’s odor is no longer offensive. He can begin to instruct Isolde.

Von da an nahm die junge Königin / stets Unterricht bei ihm. / Ihr widmete er hingegeben

(7965) seinen Eifer und seine Zeit. / Das Beste, was er konnte, / Buchwissen und Musizieren, / was ich im einzelnen nicht aufzählen will, / trug er ihr vor,

(7970) damit sie nach eigener Wahl / sich zum Lernen das aussuche, / was ihr angemessen erschien. / Das tat die schöne Isolde. / Das Allerbeste, das sie da

(7975) unter all seinen Künsten fand, / das erlernte sie schnell, / und sie konzentrierte sich eifrig auf alles, / was sie unternahm. / Dabei half ihr sehr

(7980) ihre frühere Ausbildung. / Schon vorher beherrschte sie feine Künste / und viele höfische Fertigkeiten / mit Hand und Mund. / Die Schöne konnte

(7985) die Sprache von Dublin,

Bodenfliesse [Tristan im fuehrerlosen Boot]
 
 
242 Gottfried von Straßburg: Tristan
 
 
si kunde franzois und latîn, 
videlen wol ze prîse 
in welhischer wîse. 
ir vingere die kunden, 
7990 swenne sî’s begunden, 7990 
die lîren wol gerüeren 
und ûf der harpfen vüeren 
die dœne mit gewalte. 
sie steigete unde valte 
7995 die noten behendeclîche. 7995 
ouch sanc diu sældenrîche 
suoze unde wol von munde. 
und swaz s’ê vuoge kunde, 
dâ kam si dô ze vrumen an. 
8000 ir meister der spilman 8000 
der bezzerte si sêre. 
under aller dirre lêre 
gab er ir eine unmüezekeit, 
die heizen wir morâliteit. 
8005 diu kunst diu lêret schœne site. 8005 
dâ solten alle vrouwen mite 
in ir jugent unmüezic wesen. 
morâliteit daz süeze lesen 
deist sælic unde reine. 
8010 ir lêre hât gemeine 8010 
mit der werlde und mit gote. 
si lêret uns in ir gebot 
got unde der werlde gevallen. 
s’ist edelen herzen allen 
8015 ze einer ammen gegeben 8015 
daz sî ir lîpnar unde ir leben 
suochen in ir lêre. 
wan sîne hânt guot noch êre, 
ezn lêre sî morâliteit. 
8020 diz was ir meiste unmüezekeit 8020 
der jungen küniginne. 
hie banekete s’ir sinne 
und ir gedanke dicke mite. 
hie von sô wart si wol gesite, 
8025 schône unde reine gemuot, 8025 
ir gebærde süeze unde guot. 
Sus kam diu süeze junge 
ze solher bezzerunge
 
Gottfried von Straßburg: Tristan 243

 

Französich und Latein,11 / und sie spielte ausgezeichnet die Fiedel / auf welsche Art. / Ihre Finger verstanden es,

(7990) wenn sie es anfingen, / die Leier schön zu spielen / und auf der Harfe hervorzubringen / machtvolle Töne. / Aufwärts und abwärts

(7995) spielte sie die Tonleiter geschickt. / Zudem sang das begabte Mädchen / lieblich und mit schöner Stimme. / Und was sie an Künsten vorher schon beherrschte, / das war ihr nun von Nutzen.

(8000) Ihr Lehrer, der Spielmann, / förderte sie beträchtlich. / Neben all diesen Fächern / unterrichtete er sie in einem Gegenstand, / den wir Sittenlehre nennen.

(8005) Diese Kunst vermittelt feinen Anstand. / Alle vornehmen Damen sollten sich damit / in ihrer Jugend beschäftigen. / Sittenlehre ist eine liebliche Wissenschaft, / beseligend und rein.

(8010) Sie befindet sich in Übereinstimmung / mit der Welt und Gott.12 / In ihren Gesetzen unterweist sie uns darin, / Gott und zugleich der Welt zu gefallen. / Allen vornehmen Menschen ist sie

(8015) als Nährmutter zugeordnet, / damit sie Nahrung und Lebenskraft / aus dieser Kunst beziehen. / Denn weder Besitz noch Ansehen wird ihnen zuteil, / wenn sie nicht in Sittenlehre unterwiesen sind.13

(8020) Damit beschäftigte sich am ausführlichsten / die junge Königin. / Hiermit übte sie ihren Geist / und ihre Gedanken sehr oft. / Dadurch bekam sie ein feines Benehmen,

(8025) ihr Geist wurde anmutig und vollkommen, / ihr Auftreten lieblich und angenehm.

So machte das reizende Mädchen / solche Fortschritte

244 Gottfried von Straßburg: Tristan

 
 

 
an lêre und an gebâre 
8030 in dem halben jâre, 8030 
daz von ir sælekeite 
allez daz land seite 
und ouch ir vater der künec dâ van 
vil grôze vröude gewan. 
8035 ir muoter ward es sêre vrô. 8035 
nu gevuogete ez sich dicke alsô, 
ir vater sô der was vröudehaft 
oder alse vremediu ritterschaft 
dâ ze hove vor dem künege was, 
8040 daz Isôt in den palas 8040 
vür ir vater wart besant. 
und allez daz ir was bekant 
höfschlîcher liste und schœner site, 
dâ kürzete s’ime die stunde mite 
8045 und mit im manegem an der stete. 8045 
swaz vröude sî dem vater getete, 
daz vröute s’al gelîche: 
arme und rîche 
sî hæten an ir beide 
8050 eine sælige ougenweide, 8050 
der ôren und des herzen lust. 
ûzen und innerhalp der brust 
dâ was ir lust gemeine. 
diu süeze Isôt, diu reine 
8055 si sang in, si schreip und si las. 8055 
und swaz ir aller vröude was, 
daz was ir banekîe. 
si videlte ir stampenîe, 
leiche und sô vremediu notelîn, 
8060 diu niemer vremeder kunden sîn, 8060 
in franzoiser wîse 
von Sanze und San Dinîse. 
der kunde s’ûzer mâze vil. 
ir lîren unde ir harpfenspil 
8065 sluoc sî ze beiden wenden 8065 
mit harmblanken henden 
ze lobelîchem prîse. 
in Lût noch in Thamîse 
gesluogen frouwen hende nie 
8070 seiten süezer danne hie 8070 
la dûze Isôt, la bêle.
 
Gottfried von Straßburg: Tristan 245

 

an Bildung und Anstand,
(8030) innerhalb eines halben Jahres, / daß ihre Vortrefflichkeit / jedermann rühmte / und auch ihr Vater, der König, darüber / sehr erfreut war.

(8035) Ihre Mutter war darüber ebenfalls überaus froh. / Nun ergab es sich häufig, / wenn ihr Vater gutgelaunt war / oder wenn fremde Ritter / sich bei dem König am Hofe aufhielten,

(8040) daß Isolde in den Palas / zu ihrem Vater gerufen wurde. / Und mit all ihrem Können / in höfischer Kunst und feinem Anstand / unterhielt sie ihn

(8045) und viele andere dort. / Womit sie ihren Vater erfreute, / das freute alle gleichermaßen. / Ob mächtig oder von geringerem Stande, / alle genossen

(8050) ihren beglückenden Anblick, / das Vergnügen für Ohren und Herzen. / In ihrer Brust und auch außerhalb / war ihre Freude ungeteilt. / Die liebliche, reine Isolde

(8055) sang, dichtete und las vor. / Und was sie alle erfreute, / war Erquickung für sie selbst. / Sie fiedelte ihre Tanzweisen, / Lieder und fremdartige Melodien,

(8060) die fremdartiger nicht hätten sein können, / im französischen Stil / von Sens und Saint-Denis.14 / Davon beherrschte sie überaus viele. / Leier und Harfe

(8065) spielte sie auf beiden Seiten / mit hermelinweißen Händen / ganz vortrefflich. / Weder in Lud noch in Themse15 / schlugen Frauenhände jemals

(8070) die Saiten lieblicher als hier / die liebliche, schöne Isolde.

246 Gottfried von Straßburg: Tristan

 
 

 
si sang ir pasturêle, ir rotruwange und ir rundate, 
schanzûne, refloit und folate 
8075 wol unde wol und alze wol. 8075 
wan von ir wart manc herze vol 
mit senelîcher trahte. 
von ir wart maneger slahte 
gedanke und ahte vür brâht. 
8080 durch sî wart wunder gedâht, 8080 
als ir wol wizzet, daz geschiht, 
dâ man ein solich wunder siht 
von schœne und von gevuocheit, 
als an Isôte was geleit. 
8085 Wem mag ich sî gelîchen 8085 
die schœnen, sælderîchen 
wan den Syrênen eine, 
die mit dem agesteine 
die kiele ziehent ze sich? 
8090 als zôch Isôt, sô dunket mich, 8090 
vil herzen unde gedanken în, 
die doch vil sicher wânden sîn 
von senedem ungemache. 
ouch sint die zwô sache, 
8095 kiel âne anker unde muot, 8095 
ze ebenmâzene guot. 
si sint sô selten beide 
an stæter wegeweide, 
sô dicke in ungewisser habe, 
8100 wankende beidiu an und abe, 8100 
ündende hin unde her. 
sus swebet diu wîselôse ger, 
der ungewisse minnen muot, 
rehte als daz schif âne anker tuot 
8105 in ebengelîcher wîse, 8105 
diu gevüege Isôt, diu wîse, 
diu junge süeze künigîn 
alsô zôch sî gedanken în 
ûz maneges herzen arken, 
8110 als der agestein die barken 8110 
mit der Syrênen sange tuot. 
si sanc in menges herzen muot 
offenlîchen unde tougen 
durch ôren und durch ougen.
 
Gottfried von Straßburg: Tristan 247

 

Sie sang ihre Pastourelle, / ihre ‘Rotrouenge’ und ihr Rondeau, / Chanson, Refloit und Folate16

(8075) über alle Maßen wunderschön, / denn sie füllte viele Herzen / mit Sehnsucht. / Durch sie wurden viele / Gedanken und Überlegungen geweckt.

(8080) Sie regte sehr viele Betrachtungen an, / wie es, wie Ihr genau wißt, geschehen kann, / wenn man ein solches Wunder erblickt / an Schönheit und Geschick, / wie es sich in Isolde offenbarte.

(8085) Mit wem kann ich vergleichen / das schöne, begnadete Mädchen / außer mit den Sirenen allein, / die mit dem Magnetstein / die Schiffe zu sich ziehen?17

(8090) Ebenso zog Isolde, / meine ich, viele Gedanken und Herzen an, / die sich ganz sicher fühlten / vor Liebeskummer. / Zudem sind

(8095) ein Schiff ohne Anker und Verliebtsein / gut vergleichbar. / Niemals bewegen sie sich / auf geradem Wege. / Häufig sind sie in einem unsicheren Hafen,

(8100) schwanken auf und ab, / werden von den Wellen hin und her geworfen. / So treibt das vage Verlangen, / die ungewisse Liebessehnsucht sie umher, / wie es das Schiff ohne Anker auch tut,

(8105) ganz genau so. / Die kunstfertige, kluge Isolde, / die liebliche junge Königin, / zog so die Gedanken an / aus vielen fest verriegelten Herzen,

(8110) so wie der Magnetstein die Schiffe / mit dem Gesang der Sirenen anzieht. / Sie sang sich in viele Herzen, / offen und heimlich, / durch die Augen und die Ohren.
 

 


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