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248 Gottfried von Straßburg: Tristan
 
 
 
8115 ir sanc, den s’offenlîche tete 8115 
beide anderswâ und an der stete, 
daz was ir süeze singen, 
ir senftez seiten clingen, 
daz lûte und offenlîche 
8120 durch der ôren künicrîche 8120 
hin nider in diu herzen clanc. 
sô was der tougenlîche sanc 
ir wunderlîchiu schśne, 
diu mit ir muotgedśne 
8125 verholne unde tougen 8125 
durch diu venster der ougen 
in vil manic edele herze sleich 
und daz zouber dar în streich, 
daz die gedanke zehant 
8130 vienc unde vâhende bant 8130 
mit sene und mit seneder nôt. 
[...] 
si nam da swert ze handen, 
si gienc über Tristanden, 
10145 dâ er in einem bade saz. 10145 
"ja" sprach si "Tristan, bistu daz?" 
"nein vrouwe, ich bin’z Tantris." 
"sô bistu, des bin ich gewis, 
Tantris unde Tristan. 
10150 die zwêne sint ein veiger man. 10150 
daz mir Tristan hât getân, 
daz muoz ûf Tantrîsen gân. 
du giltest mînen śhein!" 
"nein süeziu juncvrouwe, nein! 
10155 durch gotes willen, waz tuot ir? 10155 
gedenket iuwers namen an mir. 
ir sît ein vrouwe unde ein maget. 
swâ man den mort von iu gesaget, 
dâ ist diu wunneclîche Isôt 
10160 iemer an den êren tôt. 10160 
diu sunne, diu von Irlant gât, 
diu manic herze ervröuwet hât, 
â, diu hât danne ein ende! 
owê der liehten hende, 
10165 wie zimet daz swert dar inne?" 10165
 
Gottfried von Straßburg: Tristan 249

 

(8115) Ihr Gesang, den sie öffentlich

dort und überall anstimmte, / war ihr liebliches Singen, / ihr angenehmes Saitenspiel, / das laut und vernehmlich

(8120) durch das Königreich der Ohren / ins Herz drang. / Ihr heimlicher Gesang dagegen war / ihre wundervolle Schönheit, / die mit ihrem herrlichen Klang

(8125) heimlich und verborgen / durch die Fenster der Augen / in viele vornehme Herzen schlich / und dort einen Zauber bewirkte, / der die Gedanken sofort

(8130) einfing und fesselte / mit Sehnsucht und Liebesschmerz.

Upon their first meeting, Tristan and Isolde are drawn to each other by a common bond—their intellect and their music. As yet there is no evidence that they are in love. Tristan pleads that he has a wife at home waiting for him—a lie whose purpose is not at all clear, unless he thinks that this is the surest way of winning the sympathy of the queen and hence of obtaining leave to go. To the court of Dublin he is a simple minstrel; there could be no question of a royal marriage. Tristan returns to Cornwall and finds that Marke’s desire to make him heir has aroused considerable opposition among the barons. They urge Marke to marry Isolde, and Marke, thinking that a marriage with the niece of the dead Morold would be impossible to arrange, swears that he will marry no one else and thus hopes to ensure the succession for Tristan. But Tristan, to Marke’s consternation, insists on attempting to win Isolde for his uncle. He knows, as the others do not, that the king of Ireland has sworn to give his daughter in marriage to any man of noble birth who can rid his country of a ravaging dragon. He hopes that by killing the dragon he can win Isolde. Setting out with a hundred men, including some of the barons who have attacked him, he leaves them in hiding upon reaching Ireland and sets out alone. He does succeed in killing the dragon and cuts out its tongue as proof of his conquest. Foolishly, he thrusts the tongue inside his shirt, and its venom causes him to faint. Meanwhile a seneschal finds the beast, cuts off its head, and claims Isolde as his reward. Isolde and her mother do not believe him and are led by a dream to search in the area in which the fight took place. They find Tristan, remove the tongue, take him home, and cure him. They naturally recognize him as the minstrel, Tantris, and he gives a fictional account of his being forced to return to their shores. Since they regard him as a minstrel, they have no fear that he will claim Isolde’s hand. One day, while Tristan is in the bath, Isolde, for no particular reason, examines his armor and wonders why so brave a man is not a nobleman. She idly draws his sword, sees the notch in the blade, and hastens to compare it with the fragment taken from Morold’s skull. It matches, and she rushes to kill Tristan:

Sie ergriff das Schwert / und ging zu Tristan hinüber,
(10145) wo er in einem Bad saß. / "Ja", sagte sie, "bist du Tristan?" / "Nein, Herrin, ich bin Tantris." / "Dann bin ich sicher, du bist Tantris und Tristan zugleich.

(10150) Beide sind todgeweiht. / Was Tristan mir angetan hat, / trifft jetzt Tantris. / Du büßt mir für meinen Onkel." / "Nein, liebliche junge Dame, nein!

(10155) Um Gottes willen, / was tut Ihr? Bedenkt doch, wer Ihr seid! / Ihr seid ein vornehmes Mädchen. / Wo man von Eurer Mordtat erfährt, / ist die reizende Isolde

(10160) auf ewig ehrlos. / Die Sonne, die in Irland aufgeht / und viele Herzen beglückt hat, / ach sie ist dann erloschen. / Welch ein Jammer um diese weißen Hände;

(10165) wie passen sie zu dem Schwert, das sie halten?"

250 Gottfried von Straßburg: Tristan
 
 
Nu gie diu küniginne, 
ir muoter, zuo den türen în: 
"wie nû?" sprach sî "waz sol diz sîn? 
tohter, waz tiutest dû hie mîte 
10170 sint diz schśne vrouwen site? 10170 
hâstu dînen sin verlorn? 
weder ist diz schimpf oder zorn? 
waz sol daz swert in dîner hant?" 
"â vrouwe muoter, wis gemant 
10175 unser beider herzeswære. 10175 
diz ist der mordære, 
Tristan, der dînen bruoder sluoc. 
nu habe wir guoter state genuoc, 
daz wir uns an im rechen 
10180 und diz swert durch in stechen. 10180 
ez enkumet uns beiden niemer baz." 
"ist diz Tristan? wie weistu daz?" 
"ich weiz ez wol, ez ist Tristan. 
diz swert ist sîn, nu sich ez an 
10185 und sich die scharten dar bî 10185 
und merke danne, ob er’z sî. 
ich sazte iezuo diz stuckelîn 
ze dirre veigen scharten în. 
owê, dô sach ich, daz ez schein 
10190 enbærelîche und rehte als ein." 10190 
"â" sprach diu muoter zehant, 
"Isôt, wes hâstu mich gemant? 
daz ich mîn leben ie gewan! 
und ist diz danne Tristan, 
10195 wie bin ich dar an sô betrogen!" 10195 
nu hæte ouch Isôt ûf gezogen 
daz swert und trat hin über in. 
ir muoter kêrte zuo z’ir hin: 
"lâ stân, Isôt" sprach sî "lâ stân! 
10200 weist iht, waz ich vertriuwet hân?" 10200 
"ine ruoche, zwâre ez ist sîn tôt." 
Tristan sprach: "merzî, bêle Isôt!" 
"î übeler man", sprach Isôt "î, 
unde vorderstû merzî? 
10205 merzî gehśret niht ze dir. 10205 
dîn leben daz lâzest dû mir!"
 
Gottfried von Straßburg: Tristan 251

 

Nun kam die Königin, / ihre Mutter, durch die Tür hinein. / "Was soll das?" sagte sie. "Was soll das bedeuten? / Tochter, was tust du da?

(10170) Ist das das Benehmen einer feinen Dame? / Bist du von Sinnen? / Scherzt du oder bist du zornig? / Was soll das Schwert in deiner Hand?" / "Ach, Frau Mutter, sei erinnert

(10175) an unser beider Kummer. / Dies ist der Mörder, / der deinen Bruder erschlug: Tristan. / Dies ist eine gute Gelegenheit, / uns zu rächen

(10180) und ihn mit diesem Schwert zu durchbohren. / So günstig wird es nie wieder für uns sein." / "Das ist Tristan? Woher weißt du das?" / "Ich weiß es genau. Es ist Tristan. / Dies ist sein Schwert. Betrachte es

(10185) und vergleiche den Splitter daneben. / Und dann beurteile, ob er es ist. / Ich habe eben das Stückchen / in diese verfluchte Scharte eingepaßt. / Ach, da merkte ich, daß es aussah

(10190) wie aus einem Stück." / Sogleich sagte die Mutter: "Ach, / Isolde, woran erinnerst du mich! / Daß ich je geboren wurde! / Und wenn dies Tristan ist,

(10195) wie bin ich betrogen worden!" / Nun hatte Isolde das Schwert erhoben / und trat zu ihm. / Die Mutter wandte sich ihr zu / und rief: "Halt, Isolde, halt!

(10200) / Weißt du nicht, was ich versprochen habe?" / "Das kümmert mich nicht. Wahrlich, er soll sterben." / Tristan flehte: "Gnade, schöne Isolde!" / Isolde erwiderte: "Pfui, du Schurke, / du forderst Gnade?

(10205) Gnade steht dir nicht zu. / Dein Leben mußt du lassen!"

 
Bodenfliesse [Tristan gibt Isolde Harfenunterricht]

252 Gottfried von Straßburg: Tristan

 
 

 
"Nein tohter" sprach diu muoter dô 
"ez enstât nû leider niht alsô, 
daz wir uns mügen gerechen, 
10210 wir enwellen danne brechen 10210 
unser triuwe und unser êre. 
engâhe niht ze sêre. 
er ist in mîner huote 
mit lîbe und mit guote. 
10215 ich hân in, swie’z dar zuo sî komen, 10215 
genzlîche in mînen vride genomen." 
"genâde vrouwe" sprach Tristan, 
"vrouwe, gedenket wol dar an, 
daz ich iu guot unde leben 
10220 an iuwer êre hân ergeben 10220 
unde enpfienget mich alsô." 
"du liugest!" sprach diu junge dô 
"ich weiz wol, wie diu rede ergie. 
sine gelobete Tristande nie 
10225 weder vride noch huote 10225 
an lîbe noch an guote." 
hie mite sô lief s’in aber an. 
hie mite rief aber Tristan: 
"â bêle Isôt, merzî, merzî!" 
10230 ouch was diu muoter ie dâ bî, 10230 
diu durnehte künigîn. 
er mohte sunder sorge sîn. 
Ouch wære er zuo den stunden 
in daz bat gebunden, 
10235 und Isôt eine dâ gewesen: 10235 
er wære doch vor ir genesen. 
diu süeze, diu guote, 
diu siure an wîbes muote 
noch herzegallen nie gewan, 
10240 wie solte diu geslahen man? 10240 
wan daz s’et von ir leide 
und ouch von zorne beide 
solhe gebærde hæte, 
als ob si’z gerne tæte, 
10245 und hæte ouch lîhte getân, 10245 
möhte sî daz herze hân. 
daz was ir aber tiure 
ze sus getâner siure. 
doch was ir herze nie sô guot,
 
Gottfried von Straßburg: Tristan 253

 

"Nein, Tochter", sagte da die Mutter, / "zu meinem Schmerz geht das nicht. / Wir können uns nicht rächen,

(10210) wenn wir nicht brechen wollen / unseren Schwur und unser Wort. / Überstürze nichts. / Er steht unter meinem Schutz / mit seinem Leben und seinem Besitz.

(10215) Ich habe ihm, wie immer es dazu kam, / völlige Sicherheit garantiert." / "Danke, Herrin", sagte Tristan, / "und denkt daran, Herrin, / daß ich Leib und Gut

(10220) Eurer Zusicherung anvertraut habe / und Ihr sie mir auch garantiert habt." / Da rief die Jüngere: "Du lügst! / Ich kenne die Abmachung. / Niemals hat sie Tristan versprochen

(10225) Sicherheit und Schutz / für Leben und Besitz." / Mit diesen Worten ging sie erneut auf Tristan los. / Tristan aber flehte: "Gnade, schöne Isolde, habt Erbarmen!"

(10230) Es war auch die Mutter immer dabei, / die untadelige Königin. / Er konnte unbesorgt sein. / Selbst wenn er damals / im Bad gefesselt

(10235) und Isolde alleine dort gewesen wäre, / hätte er doch überlebt. / Das liebliche, herzensgute Mädchen, / das Bitterkeit in ihrer weiblichen Wesensart / und Galle niemals gekannt hat,

(10240) wie sollte es einen Mann umbringen? / Aus Schmerz nur / und auch aus Zorn / gab sie sich den Anschein, / als ob sie es gerne getan hätte,

(10245) und möglicherweise hätte sie es getan, / wenn sie das Herz dazu gehabt hätte. / Das aber war unfähig / zu solcher Härte. / Trotzdem war sie nicht so gutherzig,

254 Gottfried von Straßburg: Tristan

 

 
10250 sine hæte zorn und unmuot, 10250 
wan sî den hôrte unde sach, 
von dem ir leide geschach. 
si hôrte ir vînt unde sahen 
und mohte sîn doch niht geslahen. 
10255 diu süeze wîpheit lag ir an 10255 
unde zucte sî dâ van. 
an ir striten harte 
die zwô widerwarte, 
die widerwarten conterfeit 
10260 zorn unde wîpheit, 10260 
diu übele bî ein ander zement, 
swâ si sich ze handen nement. 
sô zorn an Isolde 
den vînt slahen wolde, 
10265 sô gie diu süeze wîpheit zuo. 10265 
"nein" sprach si suoze "niene tuo!" 
sus was ir herze in zwei gemuot, 
ein herze was übel unde guot. 
diu schśne warf daz swert dernider 
10270 und nam ez aber iesâ wider. 10270 
sine wiste in ir muote 
under übel und under guote, 
ze wederem si solte: 
si wolte unde enwolte; 
10275 si wolte tuon unde lân. 10275 
sus lie der zwîvel umbe gân, 
biz doch diu süeze wîpheit 
an dem zorne sige gestreit, 
sô daz der tôtvint genas 
und Môrolt ungerochen was. 
[...] 
Tristan ir meister dô gebôt, 
11655 daz man ze lande schielte 11655 
und eine ruowe hielte. 
nu man gelante in eine habe, 
nu gie daz volc almeistic abe 
durch banekîe ûz an daz lant. 
11660 nu gienc ouch Tristan zehant 11660 
begrüezen unde beschouwen 
die liehten sîne vrouwen. 
und alse er zuo z’ir nider gesaz 
und redeten diz unde daz
 
Gottfried von Straßburg: Tristan 255

 

(10250) daß sie nicht doch Zorn und Verdruß verspürt hätte, / als sie den hörte und sah, / der ihr solchen Schmerz zugefügt hatte. / Sie hörte ihren Feind, sie sah ihn, / und doch konnte sie ihn nicht erschlagen.

(10255) Ihr zartes weibliches Empfinden bedrängte sie / und hielt sie davon zurück. / Heftig kämpften in ihrem Inneren / die beiden Widersacher, / die feindlichen Gegensätze,

(10260) Zorn und Weiblichkeit, / die so schlecht zueinander passen, / wo immer sie zusammentreffen. / Sobald der Zorn in Isolde / den Feind töten wollte,

(10265) trat die liebliche Weiblichkeit dazwischen / und sagte sanft: "Nein, tu das nicht!" / So war ihr Herz zwieträchtig, / teils gut, teils schlecht. / Die Schöne warf das Schwert zu Boden

(10270) und nahm es aber sogleich wieder auf. / Sie wußte nicht, ob sie sich bei ihren Gefühlen / für die gütigen oder die zornigen / entscheiden sollte. / Sie wollte und wollte nicht.

(10275) Sie wollte es tun und lassen. / So schwankte sie zweifelnd hin und her, / bis ihre sanfte Weiblichkeit / schließlich doch den Zorn besiegte, / so daß der Todfeind verschont wurde / und Morold ungerächt blieb.

 

Finally, Tristan’s appeal and his reminder that they are dependent on him for help against the seneschal (ll. 10319-10325) restore peace. He now reveals his mission for Marke and it is agreed that the marriage shall take place. With great sorrow Isolde sets out with Tristan and his retinue, and there is marked tension between the two. Brangäne, Isolde’s lady-in-waiting, has been entrusted by the Queen with a draught which her daughter and Marke are to drink on their wedding night and which is to ensure everlasting love between them. This potion Brangäne keeps in her cabin.

Tristan, ihr Kapitän, befahl,

(11655) daß man auf Land zuhielte / und eine Ruhepause einlegte. / Man kam in einen Hafen, / und die meisten gingen von Bord, / um an Land spazierenzugehen.

(11660) Sogleich ging Tristan, / um zu begrüßen und anzuschauen / seine strahlend schöne Herrin. / Und als er sich zu ihr setzte / und sie dies und jenes redeten

256 Gottfried von Straßburg: Tristan
 
 
11665 von ir beider dingen, 11665 
er bat im trinken bringen. 
Nune was dâ nieman inne 
âne die küniginne 
wan cleiniu juncvrouwelîn. 
11670 der einez sprach: "seht, hie stât wîn 11670 
in diesem vezzelîne." 
nein, ezn was niht mit wîne, 
doch ez ime gelîch wære. 
ez was diu wernde swære, 
11675 diu endelôse herzenôt 11675 
von der si beide lâgen tôt. 
nu was aber ir daz unrekant. 
si stuont ûf und gie hin zehant, 
dâ daz tranc und daz glas 
11680 verborgen unde behalten was. 11680 
Tristande ir meister bôt si daz 
er bôt Isôte vürbaz. 
si tranc ungerne und über lanc 
und gap dô Tristande unde er tranc 
11685 und wânden beide, ez wære wîn. 11685 
iemitten gienc ouch Brangæne în 
unde erkande daz glas 
und sach wol, waz der rede was. 
si erschrac sô sêre unde erkam, 
11690 daz ez ir alle ir craft benam 11690 
und wart reht alse ein tôte var. 
mit tôtem herzen gie si dar. 
si nam daz leide veige vaz, 
si truoc ez dannen und warf daz 
11695 in den tobenden wilden sê. 11695 
"owê mir armen!" sprach s’ "owê, 
daz ich zer werlde ie wart geborn! 
ich arme, wie hân ich verlorn 
mîn êre und mîne triuwe! 
11700 daz ez got iemer riuwe, 11700 
daz ich an dise reise ie kam, 
daz mich der tôt dô niht ennam 
dô ich an dise veige vart 
mit Isôt ie bescheiden wart! 
11705 ouwê Tristan unde Isôt, 11705 
diz tranc ist iuwer beider tôt!" 
[...]
 
Gottfried von Straßburg: Tristan 257

 

(11665) über ihrer beider Angelegenheiten, / bat er, man möge ihm etwas zu trinken bringen. / Es war aber niemand da—/ neben der Königin—/ außer einigen jungen Hofdamen,

(11670) von denen eine sagte: / "Seht, hier ist Wein / in diesem kleinen Gefäß." / Nein, es war kein Wein, / wenn es ihm auch glich. / Es war das dauernde Leid,

(11675) die endlose Herzensqual, / an der sie beide sterben sollten. / Das aber wußte sie nicht. / Sie stand auf und ging gleich hin, / wo der Trank und das Glas

(11680) aufbewahrt und verborgen waren. / Sie gab es ihrem Kapitän, Tristan, / und der bot es zuerst Isolde an. / Sie trank widerwillig und erst nach einiger Zeit / und gab es dann

Tristan, der davon trank.

(11685) Sie beide glaubten, es sei Wein. / Inzwischen war auch Brangäne herein-gekommen, / die das Glasgefäß erkannte / und begriff, was geschehen war. / Sie erschrak und fuhr so sehr zusammen,

(11690) daß alle Kraft sie verließ / und sie totenbleich wurde. / Mit erstorbenem Herzen ging sie hin, / nahm das unselige, verfluchte Gefäß, / trug es fort und warf es

(11695) in die tobende, aufgewühlte See.18 / "Weh mir, ich Arme", rief sie, "weh, / daß ich je geboren wurde! / Ich Arme, wie habe ich verwirkt / meine Ehre und Treue!

(11700) Daß es Gott erbarmen möge, / daß ich je diese Reise antrat, / daß mich der Tod nicht daran hinderte, / auf diese todbringende Fahrt / mit Isolde geschickt zu werden!

(11705) O weh, Tristan und Isolde, / dieser Trank ist Euer beider Tod!"19

258 Gottfried von Straßburg: Tristan

 
 

 
11975 ir begunde ir herze quellen, 11975 
ir süezer munt ûf swellen, 
ir houbet daz wac allez nider. 
ir vriunt begunde ouch sî dar wider 
mit armen umbevâhen, 
11980 ze verre noch ze nâhen, 11980 
niwan in gastes wîse. 
er sprach suoze unde lîse: 
"ei schśne süeze, saget mir: 
waz wirret iu, waz claget ir?" 

11985 Der Minnen vederspil Isôt, 11985 
"lameir" sprach sî "daz ist mîn nôt, 
lameir daz swæret mir den muot, 
lameir ist, daz mir leide tuot." 
dô sî lameir sô dicke sprach, 
11990 er bedâhte unde besach 11990 
anclîchen unde cleine 
des selben wortes meine. 
sus begunde er sich versinnen, 
l’ameir daz wære minnen, 
11995 l’ameir bitter, la meir mer. 11995 
der meine der dûhte in ein her. 
er übersach der drîer ein 
unde vrâgete von den zwein. 
er versweic die minne, 
12000 ir beider vogetinne, 12000 
ir beider trôst, ir beider ger. 
mer unde sûr beredete er. 
"ich wæne" sprach er "schśne Isôt, 
mer unde sûr sint iuwer nôt. 
12005 iu smecket mer unde wint. 12005 
ich wæne, iu diu zwei bitter sint?" 
"nein hêrre, nein! waz saget ir? 
der dewederez wirret mir, 
mirn smecket weder luft noch sê. 
12010 lameir al eine tuot mir wê." 12010 
dô er des wortes z’ende kam, 
minne dar inne vernam, 
er sprach vil tougenlîche z’ir: 
"entriuwen, schśne, als ist ouch mir, 
12015 lameir und ir, ir sît mîn nôt. 12015 
herzevrouwe, liebe Isôt,

 
Gottfried von Straßburg: Tristan 259

 

Although the lovers are irresistibly attracted to each other after drinking the love-potion, they do not yield to its effect. Isolde still thinks of her uncle and is ashamed of her feelings; Tristan is deeply concerned about his relationship to his uncle and the loss of honor he will incur if he is unfaithful to his trust. Then he hears Isolde lamenting, and, at first, does not know what to make of it:

Ihr Herz ging ihr über,
(11975) ihre süßen Lippen wurden voll, / ihr Kopf sank ganz nach vorne. / Ihr Geliebter / umarmte sie ebenfalls

(11980) weder zu eng noch zu weit, / wie es einem Fremden zukommt. / Sanft und leise sagte er zu ihr: / "Ach liebliche Schöne, sagt! / Was bestürzt Euch, was klagt Ihr?"

 

(11985) Isolde, der Falke der Liebe,20 / antwortete: "Lameir ist mein Kummer, / lameir betrübt mein Herz, / lameir schmerzt mich." / Als sie so häufig lameir sagte,

(11990) überlegte er und betrachtete / sorgfältig und genau / die Bedeutung dieses Wortes. Da entsann er sich, / daß l’ameir «Liebe» heißt,

(11995) l’amei ‘bitter’ und la meir ‘Meer.’21 / Es schien eine ganze Menge Bedeutungen zu haben. / Er überging eine von den dreien / und fragte nach den beiden anderen. / Er verschwieg die Liebe,

(12000) ihrer beider Herrin, / ihrer beider Trost und Streben. / Er sprach von Meer und bitter. / "Ich glaube", sagte er, "schöne Isolde, / Euch bedrücken Meer und Bitternis.

(12005) Euch mißfällt das Meer und der Wind. / Ich denke, beides ist bitter für Euch." / "Nein, Herr. Was sagt Ihr? / Keines von beiden bewegt mich. / Weder Luft noch See mißfallen mir.

(12010) Lameir allein tut mir weh." / Als er das Wort begriff, / bemerkte er ‘Liebe’ darin, / und er flüsterte ihr zu: / "Wahrhaftig, meine Schöne, so geht es mir auch:

(12015) Ihr und lameir bedrängen mich. / Liebste Herrin, liebliche Isolde,

260 Gottfried von Straßburg: Tristan

 
 

 
ir eine und iuwer minne 
ir habet mir mîne sinne 
gar verkêret unde benomen, 
12020 ich bin ûzer wege komen 12020 
sô starke und alsô sêre: 
in erhol mich niemer mêre. 
mich müejet und mich swæret, 
mir swachet unde unmæret 
12025 allez, daz mîn ouge siht. 12025 
in al der werlde enist mir niht 
in mînem herzen liep wan ir." 
Isôt sprach. "hêrre, als sît ir mir." 

Dô die gelieben under in 
12030 beide erkanden einen sin, 12030 
ein herze und einen willen, 
ez begunde in beidiu stillen 
und offenen ir ungemach. 
ietwederez sach unde sprach 
12035 daz ander beltlîcher an: 12035 
der man die maget, diu maget den man. 
vremede under in diu was dô hin. 
er kuste sî und sî kust in 
lieplîchen unde suoze. 
12040 daz was der minnen buoze 12040 
ein sæleclîcher anevanc. 
[...]

 
Gottfried von Straßburg: Tristan 261

 

Ihr allein und Eure Liebe / habt mir die Sinne / ganz und gar verwirrt und geraubt.

(12020) Ich bin vom Wege abgekommen / so sehr und weit, / daß ich nicht mehr zurückfinde. / Mich schmerzt und bedrückt, / mir erscheint unwert und zuwider

(12025) alles, was ich sehe. / Nichts auf der Welt / liebe ich so innig wie Euch." / Isolde sagte: "Herr, genauso geht es mir mit Euch."

Als die Liebenden aneinander
(12030) merkten, daß sie dasselbe fühlten, / daß sie ein Herz und einen Wunsch hatten, / da besänftigte sich bei beiden / die Qual und wurde zugleich offenbar. / Jeder von ihnen sah und sprach

(12035) den anderen kühner an, / der Mann das Mädchen, das Mädchen den Mann.22 / Die Fremdheit zwischen ihnen war vergangen. / Er küßte sie und sie ihn / liebevoll und zärtlich.

(12040) Das war zur Linderung ihrer Liebesqualen / ein beglückender Anfang.
 



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